Kurier (A), 7.7.99

Türkische Früchte des Zorns
Nach dem Todesurteil gegen PKK-Chef Öcalan fast täglich Anschläge militanter Kurden - Das dicke Ende könnte aber noch bevorstehen

"Verhaltet Euch ruhig, sonst sieht es für mich schlecht aus", soll PKK-Chef Abdullah Öcalan unmittelbar vor Prozeß-Ende seine Anhänger aufgerufen haben. Doch nicht alle folgten dem zum Tod verurteilten Kurdenführer: In den vergangenen Tagen kam es wiederholt zu Anschlägen in der Türkei und in Deutschland. Zuletzt in der Nacht zum Montag, als im Istanbuler Mustafa Burcu Park, einer beliebten Grünoase mit Grillplätzen, eine Splitterbombe einen Mann tötete und 25 weitere Personen teils schwer verletzte. Mit jedem dieser Attentate bringen militante PKK-Aktivisten ihren "Apo" (Onkel), wie die Getreuen Öcalan nennen, dem Galgen tatsächlich ein Stücken näher. Denn je mehr schuldlose Zivilisten sterben, desto größer wird der Druck auf Ankara, den 50jährigen hinzurichten (dazu müssen Parlament und Staatspräsident zustimmen). Hintergrund: In weiten Teilen der Bevölkerung ist die von Medien und der Regierung nach der Festnahme Öcalans, Mitte Februar dieses Jahres, entfachte nationalistische Kampagne auf fruchtbaren Boden gefallen. Viele fordern den Kopf des "Staatsfeindes Nummer eins" und sind in der Wahl der Mittel nicht zimperlich: Ein TV-Team des ZDF wurde am Montag in Istanbul von 100 Passanten bedroht: "Wir bringen euch um, ihr Ausländer, Schweine. Ihr macht ja doch nur PKK-Propaganda." Gleichzeitig aber mehreren sich in der Türkei die Anzeichen, das Urteil nicht zu vollstrecken: Premier Bülent Ecevit ist ein prinzipieller Gegner von Exekutionen (seit 1984 ist keine mehr durchgeführt worden), und das Außenministerium, so Medienberichte, hat sich jüngst zu der Überzeugung durchgerungen, daß ein lebender Öcalan wertvoller sei als ein toter. Last but not least fürchtet die Geschäftswelt, daß bei einer Hinrichtung des PKK-Chefs die Türen zur Europäischen Union für die Türkei noch lange Zeit geschlossen bleiben. Genau damit hatten namhafte EU-Politiker gedroht - und die (selbstbewußten) Türken ins Mark getroffen. Reflexartig konterte Ecevit: "Niemand hat das Recht, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen." Deftiger und gar nicht diplomatisch ein türkischer Diplomat in "Euro-Land": "Die EU soll die Klappe halten." Wie das Tauziehen um die Vollstreckung des Todesurteils auch ausgehen mag - "fest steht, daß das letzte Wort vom allmächtigen Militär kommt", betont der Leiter des Hamburger Orientinstituts, Udo Steinbach, im KURIER-Gespräch. Weist der Daumen nach unten, rechnen Experten mit dem Allerschlimmsten. In der Türkei könnten Gewalt und Terror eskalieren (laut dem türkischen TV-Sender NTV wurden bereits 23 Bombenspezialisten der PKK in türkische Großstädte geschleust). Und für die Bundesrepublik, aber auch für ganz Europa skizzieren deutsche Sicherheitsbehörden wahre Horror-Szenarien: Von Brandanschlägen über Kamikaze-Attacken bis hin zu Flugzeugentführungen. Das Ganze schon bei "herannahendem Vollstreckungstermin". Indirekt bestätigt dies Erol Polat, Sprecher der ERNK, des politischen Arms der PKK, im KURIER-Interview: "Derzeit wartet die PKK ab. Sie distanziert sich von Anschlägen in Europa. Aber sollte Öcalan tatsächlich hingerichtet werden, bedeutet dies Krieg. Dann werden alle Kurden dahinter stehen. Was in der Türkei passiert, wird sich auch auf Europa ziehen." Im Klartext: Die derzeitigen Anschläge, die offenbar nicht zentral gesteuert sind, werden dann generalstabsmäßig durchführt, der Kampf der Kurden wird eine neue Dimension erfahren.