Wochenzeitung WoZ (CH), 1.7.

Ein Feuerball, von Europa geschickt

Loris Campetti, Mudanya (Loris Campetti beobachtete für die italienische Tageszeitung «Il manifesto» den Prozess gegen Öcalan.)

Der zerplatzte Traum von der Autonomie>Abdullah, mein Bruder, was werden sie mit dir machen?» - «Ich denke, sie werden mich zum Tode verurteilen.» Die leuchtenden Augen von Mehmet Öcalan, Bruder von «Apo» Abdullah Öcalan, spiegelten Trauer wider, während er mir von seinem Besuch im Bunker von Imrali erzählte. Auf Imrali, dieser kleinen Insel im Marmarameer, sitzt Abdullah Öcalan. Auf Imrali fand auch der Prozess gegen den Chef der kurdischen Arbeiterpartei PKK statt; nun wartet er dort auf den Henker. Der Name Öcalan ist zum Inbegriff des «Kurdenproblems» geworden, eines Problems, das es in der Türkei nicht gibt, denn hier existieren ja auch keine KurdInnen. Wer öffentlich das Gegenteil behauptet, landet im Gefängnis. So erging es zu Beginn des Prozesses gegen Öcalan auch Akin Birdal, dem Präsidenten des türkischen Menschenrechtsvereins. Birdal hatte sich 1995 öffentlich für Frieden zwischen dem türkischen und dem kur- dischen Volk ausgesprochen und war deshalb zu einer Haftstrafe von zehn Monaten verurteilt worden; am 3. Juni musste er die Haftstrafe antreten. Letztes Jahr war Birdal von den faschistischen Grauen Wölfen bereits «bestraft» worden - mit acht Schüssen, die ihn lebensgefährlich verletzten. Seit einem Monat nun sitzen die Grauen Wölfe im Zweireiher und in allen Ehren in der Regierung von Bülent Ecevit und stellen Minister und den Vizepräsidenten. Sie haben an den Wahlurnen die Früchte des Hasses geerntet, den der vom Militär diktierte Nationalismus hervorgerufen hat. Für die NationalistInnen gibt es kein Kurdistan, sondern nur eine Region, in der der Ausnahmezustand gerade mal wieder verlängert wurde. Millionen KurdInnen sind aus ihren Häusern vertrieben worden und mussten fliehen: nach Istanbul (wo vier Millionen leben) oder auf löchrigen Kähnen nach Europa. Viertausend Dörfer haben das türkische Militär und die Spezialeinheiten zur Terrorismusbekämpfung niedergebrannt, zehntausend KurdInnen wurden in die Kerker geworfen, tausende gefoltert. In dieser Situation hatte Abdullah Öcalan die PKK gegründet. Man muss diesen nun fünfzehn Jahre währenden Krieg nicht gutheissen, in dem - wie in allen Kriegen - die Opfer Gefahr liefen, die Methoden und die Brutalität ihrer Peiniger zu übernehmen, aber man kann die Beweggründe verstehen.

Der Feind sind wir

Über tausend JournalistInnen aus aller Welt waren hierher gereist, um den Prozess mitzuverfolgen, der in der Türkei als «Jahrhundertprozess» gilt, in Wirklichkeit aber nichts als eine Farce darstellte. Nur einige JournalistInnen waren abwechselnd zugelassen (ohne Aufnahmegeräte freilich), kurdische KollegInnen durften nicht in den Gerichtssaal, und auch wir italienische JournalistInnen konnten nur aus der Entfernung zuschauen - gefesselt an ein Hotel, das zum Pressezentrum umgebaut worden war und in dem uns nur einige Bilder des türkischen Staatsfernsehens und gelegentliche Pressemeldungen der halbstaatlichen Nachrichtenagentur Anadolu erreichten. Jeweils nachmittags, wenn die Anhörung beendet war, liefen wir zur Hafenmole und warteten auf die Ankunft des Tragflügelbootes, das die «guten», also die nichtitalienischen JournalistInnen und andere Prozessbeteiligte an Land brachte - mit Ausnahme der AnwältInnen der Verteidigung, die wurden in einem anderen, unzugänglichen Hafen abgesetzt. So berichteten wir das, was man uns erzählte und was wir vom Hafen aus mitbekamen. Unsere Schuld war, StaatsbürgerInnen eines Landes zu sein, das gegenüber der Türkei so unhöflich war, die eigenen Gesetze zu achten und Öcalan nicht den Folterknechten der Türkei auszuliefern, die noch die Todesstrafe kennt. Um die Wahrheit zu sagen: Die italienische Regierung ermöglichte es der Türkei, Öcalan mithilfe des CIA aus Kenia zu entführen, indem sie ihn - der nach Rom gekommen war, um Europa zu bitten, einen Friedensprozess in die Wege zu leiten - zwang, die Stadt zu verlassen. Aber das war den türkischen Militärs, den wahren Herren dieses Landes, nicht genug, und so wurde Italien zu einem Feind, beinahe wie Griechenland, und die italienischen Journalist- Innen wurden bestraft. Jeden Tag durchliefen unsere Artikel die Zensur, und wir wurden samt unseren Notizen und unserer Koffer ebenfalls gefilzt.

Der zerplatzte Traum von der Autonomie

Donnerstag letzter Woche. Wir machten unseren üblichen Ausflug zum Hafen, und wie üblich drehte das Riesenschlauchboot mit den rot gekleideten Antiterror-Sturmtruppen die Runde; die achtzehn Seemeilen zwischen Imrali und Mudanya werden von ihnen, die ihre Gesichter hinter schwarzen Kopfmasken verstecken, kontrolliert. Als sich das Boot dem Ufer näherte, plötzlich wendete und eine Wasserfontäne in die applaudierende Menge schickte, tobten die Menschen: «Das sind unsere Helden.» Eine Rotte Grauer Wölfe hatte wieder einmal einige hundert Mütter gefallener Soldaten und Veteranen des «heiligen Kriegs» gegen Öcalan, die PKK, die KurdInnen, die AusländerInnen, die JournalistInnen aufgebracht; es war das normale Schauspiel hier, auch die Slogans waren stets dieselben. «Hängt ihn sofort!», «Imrali wird dein Grab sein!», skandierten sie mit erhobener linker Hand, Zeigefinger und kleiner Finger wie Hörner nach vorne gestreckt. Das ist das Erkennungszeichen der Grauen Wölfe. Nur die Soldatenmütter zeigen mehr Leid als Hass. Für die Stärkung der Menge sorgte die Präfektur von Bursa: in Plastikbehältern karrt sie warme Gerichte heran. Am allerwenigsten störten sich an den DemonstrantInnen die Polizisten, die ihnen augenzwinkernd von der anderen Seite der Absperrung aus zuschauten.

Brüder unter dem Halbmond <Bild>In seinem Schlussplädoyer appellierte Abdullah Öcalan drei lange Stunden für Frieden und Amnestie, für die Anerkennung der kulturellen Rechte der KurdInnen, vor allem für das Recht, die eigene Sprache sprechen zu dürfen. Öcalan hat auf beinahe alles verzichtet, für das die PKK kämpfte und womit sie tausende junger Menschen vom Kampf überzeugt hatte - auf die Unabhängigkeit Kurdistans und sogar auf eine lumpige Verwaltungsautonomie. Das wichtigste Ziel sei heute die Einleitung eines Friedensprozesses und das Ende der Kämpfe, die bislang zwanzigtausend Kurden und fünftausend Türken das Leben kosteten. Sie hätten Fehler gemacht, räumte Apo zum wiederholten Male ein, nun aber bestünde die historische Chance, in der Geschichte eine neue Seite aufzuschlagen und gemeinsam an der Demokratisierung der Türkei zu arbeiten. Die PKK-KämpferInnen forderte er auf: «Kommt von den Bergen herunter und legt eure Waffen nieder»; der einzige Weg sei der, «in Bruderschaft und in der Union» mit dem türkischen Volk zu leben, «unter derselben roten Fahne mit dem Halbmond». Das sagte Öcalan, der sich teilweise selber verteidigte, in einem politischen Prozess vor einem Sondergericht, das sich nicht einmal bemühte, irgendeinen Anschein von Rechtsstaatlichkeit zu wahren. Als Öcalans Verteidiger den Vorsitzenden Richter Turgut Okyay Mitte letzter Woche auf die veränderte Zusammensetzung des Gerichts aufmerksam machten und deswegen ein neues Verfahren beantragten (nach öffentlicher Kritik auch aus Europa war der Militärrichter des dreiköpfigen Gremiums schliesslich durch einen Zivilrichter ersetzt worden), bügelte dieser den Antrag umgehend ab. «Sind Sie der Meinung, dass in diesem Prozess irgendetwas nicht ordnungsgemäss verlief, oder können wir fortfahren?», fragte er den Angeklagten. «Alles ordnungsgemäss, Eure Exzellenz», antwortete Öcalan, «wir können weitermachen.» Noch während Öcalan aus dem Glaskäfig heraus seine Friedensappelle wiederholte, meldete sich in Ankara der Staatssicherheitsrat - das wirkliche Entscheidungsorgan des Landes - zu Wort und diktierte den Urteilsspruch: «Wir werden weiterhin mit allen Kräften des Staates für die Sicherheit und die Einheit der Türkei und gegen den separatistischen Terrorismus kämpfen.» Zur gleichen Zeit erschoss die türkische Polizei den PKK-Verantwortlichen für die Schwarzmeerregion, und ebenso gleichzeitig verlängerte der Staatssicherheitsrat den Ausnahmezustand im Südosten des Landes um weitere vier Monate. Ausnahmezustand bedeutet restriktive Gesetze, die Aussetzung vieler verfassungsrechtlicher Garantien, einen Sondergouverneur mit vielen Vollmachten, ständige Alarmbereitschaft der Ordnungskräfte, Demonstrationsverbot, verschärfte Kontrollen und das Verbot, den Flughafen ohne Sondergenehmigung zu betreten. Dieses Verbot gilt vor allem für AusländerInnen. Diyarbakir, die kurdische Grossstadt im Osten der Türkei, bleibt also isoliert und wird auch künftig allein sein, wenn der Krieg weitergeht mit seinen Zerstörungen, seinen täglich neuen Toten und den Dörfern, die im Namen des Kampfes gegen den «separatistischen Terrorismus» in Flammen aufgehen. Dabei gibt es niemanden mehr, der daran denkt, Kurdistan von der Türkei abzutrennen.

Europas lautes Schweigen Während Öcalan im Glaskäfig für Frieden warb, unterbreitete auch die europäische PKK-Zentrale ein Angebot. Wenn die Türkei darauf verzichte, Apo zu hängen, wenn die politischen Rechte der KurdInnen und deren Sprache anerkannt würden, wenn der Ausnahmezustand im Südosten aufgehoben werde, der türkische Staat zu einem Friedensprozess und zur Demokratisierung der Türkei bereit sei, dann wollen die Guerilleros ihre Waffen niederlegen. Doch die Türkei wetzt die Messer, und zwar in aller Öffentlichkeit. Dabei impliziert das Angebot auch eine Warnung: Wenn Ankara das Entgegenkommen der PKK torpediert, wird viel Blut fliessen.

Auch Öcalan warnte mit einer Mischung aus Hoffnung und Realismus: «Die europäischen Länder haben mich wie einen Feuerball in die Türkei geschleudert und verursachen damit einen Brand, der ein Jahrhundert andauern wird. Sie haben das getan, um die Türkei zu schwächen» - eine Türkei, die, schlüge sie die Strasse zum Frieden ein, «ein sehr grosses Land», gar das führende im Nahen Osten werden könne. Um dazu beizutragen, sei er zu allem bereit, sagte Öcalan am Ende seiner Verteidigungsrede: «Ich bin bereit, die türkische Republik und ihre Gesetze zu respektieren. Ich hoffe, dass das kommende Jahrhundert ein Jahrhundert des Friedens und der Brüderlichkeit ist.» Das seien, sagte Öcalan und senkte den Kopf, seine «Empfehlungen an das Gericht». Das Gericht, an das er so eindringlich appellierte, verurteilte ihn kurz danach zum Tode. Und Öcalans Anwälte? Die wurden teilweise aus dem Verkehr gezogen, unter Druck gesetzt, bedroht. Einige warfen schon vor Prozessbeginn das Handtuch. Manche waren vielleicht auch mit der von Öcalan gewählten Verteidigungslinie nicht einverstanden. So übernahmen vor allem jüngere Anwälte die unmögliche Aufgabe, den PKK-Chef vor einem Gericht zu verteidigen, das den Tod durch den Strang längst beschlossen hatte, weil es dieses Urteil fällen musste. Auch sie wurden von den Müttern der gefallenen Soldaten, von den Grauen Wölfen, von den Soldaten- und Veteranen-Organisationen belagert; und einmal hat sie gar ein Hotelier, der selber unter Druck geraten war, vor die Türe gesetzt, worauf sie nicht zum Prozess erschienen. Da wurde dieser eben ohne Verteidigung fortgesetzt, «the show must go on». Es war ein Prozess ohne Zeugen und ohne Beweisaufnahme; der Vorsitzende Richter wollte anfangs gar auf das Verlesen der Anklageschrift verzichten, die während der Verhöre Öcalans ohne Hinzuziehung eines Verteidigers im Gefängnis zusammengebastelt worden war. So bleibt nur noch die Ungewissheit, ob das Urteil auch vollstreckt wird und ob die Türkei Europa damit eine Ohrfeige verpassen will - diesem Europa, das sich anmasst, über die Menschenrechtsverletzungen anderer zu richten. Wenn dem so wäre, wenn das Berufungsgericht die Todesstrafe bestätigen sollte, wenn das Parlament der Exekution zustimmt und wenn Staatspräsident Süleyman Demirel das Urteil ratifiziert - dann könnte das Blutbad von neuem beginnen. Die KämpferInnen in den Bergen mögen dann vielleicht besiegt werden - aber die Wut dieses geschundenen und erniedrigten kurdischen Volkes wird lange dauern. In Mudanya waren die Schreie der Grauen Wölfe nicht zu überhören. Mindestens genauso auffällig aber war das komplizenhafte Schweigen Europas, dieses Weltmeisters im Kampf gegen «ethnische Säuberungen» - jedenfalls dann, wenn diese von einem richtigen Feind vorgenommen werden. Die Türkei ist jedoch kein Feind, sondern ein Bollwerk der Nato, das Europa vor der «islamischen Gefahr» schützt. Da drückt man schon mal ein Auge zu. In Mudanya fiel es jedenfalls schwer, nicht eine gewisse Scham zu verspüren angesichts der Verantwortung, die wir EuropäerInnen auch für das haben, was sich auf der Insel im Marmarameer abspielte.

Übersetzung: Brigitte Matern.