sz, 5.7.

Die Mimose am Bosporus

VON WOLFGANG KOYDL, ISTANBUL

Bill Gates mag das Verdienst zukommen, dieses System als Software-Standard in der Datenverarbeitung eingeführt zu haben. Doch in der Politik waren die Türken als Nachfahren der Byzantiner die Erfinder und wahren Meister des Windows-Konzepts. Denn schon immer galt bei ihnen: Politische Realität besteht aus vielen, übereinanderliegenden Fenstern, wobei die auf dem Bildschirm sichtbare Oberfläche nicht unbedingt wichtig für das laufende Programm ist. Völlig irregeht, wer sich auf die türkischen Medien verläßt. Sie sind meist nicht mehr als Bildschirmschoner: Bunt, aber belanglos.

Derart vielschichtig und zugleich undurchsichtig hat sich von jeher auch das Verhältnis der Türkei zu Europa gestaltet - bis heute. Oberflächlich betrachtet ist Ankaras weißglühender Zorn seit dem katastrophalen EU-Gipfel von Luxemburg kein bißchen erkaltet: Voller Selbstmitleid und Trotz erdulden die Türken Europas Zurückweisung und kühlen zugleich ihre Wut durch periodisch aufwallende Attacken auf die ganze Europäische Union oder auf einzelne europäische Staaten. Der Feind, so scheint es, steht unverrückbar im Westen. Doch nur ein paar Maus-Clicks weiter öffnet sich ein anderes Fenster, das ganz ohne Zweifel nach Europa blickt. Mit einem bemerkenswerten Maß an differenzierter Analyse haben die Machthaber der Türkei - zivile wie militärische - damit begonnen, jene Schäden zu reparieren, welche vor allem der ehemalige Ministerpräsident Mesut Yilmaz (mit tatkräftiger Unterstützung von Helmut Kohls Bundeskanzleramt) mutwillig angerichtet hatte. Die Zukunft der Türkei, so scheint es, liegt wieder unverrückbar im Westen.

Warum dieser Umschwung nach all den eurasischen Eskapaden, nach all den Träumen von einem "türkischen 21. Jahrhundert", nach all den Szenarien von einer Partnerschaft mit Zentralasien und dem großen China? Im Grunde genommen gibt es vier Gründe, die allesamt gespeist werden von einem ökonomischen Schock.Erstens: Die Türkei hat erkannt, daß sie die Ausläufer der Asien- und der Rußlandkrise nur dank ihrer engen wirtschaftlichen Anbindung an die Europäische Union überlebt hat. Die vielseits geschmähte Zollunion mit der EU hat sich bewährt; türkische Produzenten konnten auf zuverlässige Absatzmärkte vertrauen, die ansonsten von der billigen asiatischen Konkurrenz erstürmt worden wären. Zweitens: Die stürmische Liebe zum vermeintlich strategischen Partner Israel hat sich abgekühlt. In Ankara hat man erkannt, daß bedingungslose Nibelungentreue von den Israelis nicht zu erwarten ist. Sie rechnen kühl ihre Interessen gegen die türkischen auf; wolkige Freundschaftsgefühle haben keinen Platz. Zudem rächt sich, daß die Partnerschaft auf türkischer Seite ein wenig zu eng auf Person und Politik des gescheiterten Premierministers Benjamin Netanyahu zugeschnitten war. Außerdem waren sechs Millionen Israelis nie ein Markt, der für die türkische Industrie eine Alternative zur EU gewesen wäre. Drittens: Sogar in das Verhältnis zum Ober-Freund Amerika hat sich Mißtrauen eingeschlichen. Ob es um die von den Türken heiß begehrte Pipeline vom aserbaidschanischen Baku in den Mittelmeerhafen Ceyhan geht oder um die Kurden im Nord-Irak oder neuerdings um Cypern - Washington hat sich letzthin bestenfalls als lauer Freund erwiesen. Das bedeutet jedoch, daß man Europa und die USA nicht so ohne weiteres gegeneinander ausspielen kann.

Und viertens: Nach Kosovo ist die Welt schon wieder anders geworden - zum zweiten Mal seit dem Zusammenbruch des Kommunismus vor zehn Jahren. Die Nato hat sich die Rechte eines Welt-Gendarms angemaßt, und in der Gemeinschaft der G-8-Staaten ist so etwas wie eine embryonale Weltregierung entstanden. Zwei eher marginale Äußerungen waren es, die in diesem Zusammenhang in Ankara Alarm ausgelöst haben: Als US-Außenministerin Madeleine Albright Armenien und dem Türkenfreund Aserbaidschan eine Kosovo-Kur androhte, wenn sie ihr Problem um Berg-Karabach nicht friedlich lösten; und als urplötzlich die mächtigen G-8-Staaten gesteigertes Interesse am Cypern-Problem zeigten, und nicht mehr nur die zahnlosen Vereinten Nationen.

Die Türkei will sich also öffnen, aber sie tut es wie eine Mimose: Sie entfaltet behutsam ihre Blätter, ist aber jederzeit bereit, sich bei der geringsten Berührung wieder einzukapseln. Wie soll man mit diesem empfindlichen Pflänzchen umgehen? Dafür gibt es zwei Ratschläge, die die deutschen Politiker, die in diesem Jahr jetzt die Türkei besuchen, beherzigen sollten: Zum einen sind Türken sehr wohl aufgeschlossen für unangenehme Wahrheiten und Kritik. Sie müssen nur im richtigen Umgangston vorgebracht werden und dürfen nicht an die Glocke der Medien gehängt werden. Das ist eine Frage von Ehre und Gesichtsverlust. Zum anderen werden Zusagen nicht unbedingt als zwingend verbindlich betrachtet. Anders gesagt: Das Wort EU-Kandidat bedeutet nicht automatisch EU-Mitglied. Aber mit dem Zauberwort "Kandidat" ließe sich innenpolitisch einiges in Bewegung setzen, das bislang als unreformierbar galt.

Mit anderen Worten: Ein kleiner Auffrischungskurs im Betriebssystem Windows wäre ganz gut, wenn man einen Totalabsturz des Rechners verhindern will.