Frankfurter Neue Presse, 1.7.99

Nach Öcalan-Urteil: Brandanschläge in Deutschland

Istanbul/Hamburg (dpa) - Am Tage nach dem Todesurteil gegen den PKK-Führer Abdullah Öcalan ist es am Mittwoch in der Türkei ruhig geblieben. Es wurden keine Anschläge oder Ausschreitungen gemeldet. Dagegen gab es in Deutschland zahlreiche Brandanschläge; in Stuttgart wurde dabei ein Mensch leicht verletzt.

Nach Ansicht des Geheimdienstkoordinators im deutschen Kanzleramt, Ernst Uhrlau, wurden die Anschläge in der Bundesrepublik direkt von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gesteuert. Er befürchtete weitere Gewalttaten. Die Behörden warnten am Mittwoch insbesondere Zeitungen und elektronische Medien davor, daß militante Kurden die Redaktionsräume besetzen könnten, und forderten zu Sicherheitsvorkehrungen auf.

Politiker forderten erneut nachdrücklich, das Todesurteil nicht zu vollstrecken. Sie verlangten eine Angleichung an europäische Standards bei der Beachtung der Menschenrechte als eine entscheidende Hürde vor einem eventuellen EU-Beitritt der Türkei.

Die Europäische Union konnte sich nicht auf eine gemeinsame Stellungnahme zum Todesurteil einigen. Der Staatssekretär im deutschen Auswärtigen Amt, Wolfgang Ischinger, sagte am Mittwoch im Menschenrechtsausschuß des Bundestages, innerhalb der Union seien die Meinungen kontrovers. Eine am Vortag verbreitete Erklärung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gegen die Vollstreckung der Todesstrafe falle lediglich in die Verantwortung der Bundesregierung, wurde Ischinger im Parlaments-Pressedienst zitiert. Insbesondere Griechenland habe sich dagegen gewandt, daß der Türkei bei Änderungen in Menschenrechtsfragen eine Perspektive für den Beitritt in die EU eröffnet werde.

Der Direktor des Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen, sagte der dpa in Bonn, die Vollstreckung des Todesurteile werde am türkischen Parlament scheitern und in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt werden. Äußerungen zu einem möglichen EU-Beitritt der Türkei hätten dagegen keinen Einfluß. Die EU habe der Türkei ohnehin keine Aussicht auf einen Beitritt gemacht. Die EU-Mitgliedschaft sei für die türkische Öffentlichkeit nicht maßgebend.

Die USA schlossen unterdessen aus Sicherheitsgründen vorübergehend ihre Generalkonsulate in Istanbul und Adana. Die Botschaft in Ankara und das Konsulat in Izmir blieben dagegen offen, berichtete die US- Botschaft in der türkischen Hauptstadt. Nach Angaben des türkischen Tourismusministers Erkan Mumcu hat das Todesurteil dem türkischen Fremdenverkehr nicht geschadet. Es gebe keine Stornierungen. «Im Gegenteil: Die Reservierungen gehen weiter», sagte der Minister in Istanbul.

Der PKK-Chef hat offenbar mit einem Todesurteil gerechnet. Nach Angaben seiner Verteidiger sei Öcalan vom Richterspruch nicht überrascht gewesen, berichtete die türkische Zeitung «Radikal». Sollte der Separatistenführer tatsächlich gehängt werden, müßte sich die Türkei noch auf die Suche nach einem Henker machen. In der Türkei ist seit 1984 niemand mehr hingerichtet worden; folglich gebe es auch keinen Henker mehr, berichtete die türkische Zeitung «Hürriyet».

Das kurdische Exilparlament hat die Türkei vor einer Vollstreckung des Todesurteils gegen Öcalan gewarnt. Eine Exekution würde zu einer Eskalation des Bürgerkrieges führen, und «niemand hat an einem neuen blutigen Krieg Interesse», sagte der Präsident des Exilparlaments, Yasar Kaya, am Mittwoch in Brüssel. Der Frieden sei in greifbarer Nähe, aber die Türkei müsse die dafür notwendigen Anstrengungen unternehmen.

Welche Aktionen für den Fall einer Hinrichtung Öcalans geplant werden, sagte der Kurden-Führer nicht. Gleichwohl riet er europäischen Touristen von Reisen in die Türkei ab. «Das kurdische Volk ist sehr erzürnt, und wir wissen nicht, wie es reagieren könnte», sagte Kaya. Die Kurden in Europa rief er dazu auf, friedlich zu demonstrieren.