junge Welt 30.6.99

Der »Kurden-Aufstand« blieb aus 
PKK diskutiert neue Strategie nach Todesurteil für Abdullah Öcalan

Nur wenige hundert Menschen gingen am Dienstag in Deutschland auf die Straße, um gegen das am Morgen gefällte Todesurteil gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan zu demonstrieren. In Städten wie Braunschweig, Hamburg und Frankfurt am Main versammelten sich Kurden zu Kundgebungen, in Bonn zogen 250 Demonstranten zunächst zur britischen und dann zur kanadischen Botschaft. Die westlichen Länder, so der Vorwurf der Demonstranten, hätten den türkischen Staat bei seinem Wüten in Kurdistan gewähren lassen und sich nicht ausreichend für Öcalan eingesetzt. Die von Politikern und Polizeiführern an die Wand gemalten »Gewaltaktionen von PKK-Anhängern« blieben aus. Viele Anhänger Öcalans wissen, daß das letzte Wort über Leben oder Tod ihres Vorsitzenden noch nicht gesprochen ist - und daß es möglicherweise auch von der öffentlichen Meinung in den westeuropäischen Ländern abhängt, wie dieses Wort ausfällt. Scharf fielen hingegen die Stellungnahmen aus, mit denen kurdische Organisationen, Menschenrechtsgruppen und deutsche Politiker das Urteil kommentierten. Auch bei letzteren überwogen, zumindest von der PDS bis zur SPD, kritische Kommentare. Die Europazentrale der Nationalen Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) - der »politische Arm« der PKK - bezeichnete das Urteil in einer bereits unmittelbar nach dem Richterspruch vom Kurdistan-Informations-Zentrum verbreiteten Erklärung als einen »gegen unsere Nation und unsere Würde gerichteten faschistischen und nationalistischen Angriff«. Man werde diesen Angriff »nicht stillschweigend« über sich ergehen lassen. Die PKK werde »auf jeden Fall anders reagieren als wir es bis zur Bekanntgabe des Urteils getan haben«, wolle zunächst aber die neue Entwicklung »von allen Seiten beleuchten und diskutieren und ihre Strategie und Vorgehensweise binnen kürzester Zeit in die Tat umsetzen«. Das Gericht sei mit seiner Strafbemessung der Vorgabe des türkischen Generalstabes und der Forderung der staatlich gelenkten türkischen Medien nachgekommen, heißt es in einer Erklärung der »Internationalen Initiative Freiheit für Abullah Öcalan - Frieden in Kurdistan«. Das Urteil sei Grundlage für eine »weitere Verstärkung der chauvinistischen Hetze« und stelle die »Weichen für eine Eskalation des Krieges«. Öcalans im Verlauf des Prozesses unterbreiteten Vorschläge für Frieden und Demokratie in Kurdistan und in der Türkei seien »mit Hilfe einer zentral gesteuerten Desinformationskampagne bis zur Unkenntlichkeit verdreht« worden, so die Initiative. Statt dessen werde versucht, vom PKK-Vorsitzenden »den Eindruck eines Opportunisten und Verräters zu vermitteln, dem es nur noch um sein eigenes Leben geht«. Den Fraktionsvorstand der PDS im Bundestag erfüllt der Richterspruch gegen Öcalan »mit Empörung, Zorn und Trauer«. Das Urteil dürfe nicht vollstreckt werden, Öcalan solle die Möglichkeit erhalten, in ein sicheres Land auszureisen. Die Bundesregierung müsse die Abschiebung von Kurden in die Türkei sofort unterbinden und Schritte zu einer internationalen Konferenz der Kurdenfrage unternehmen, verlangte die PDS-Fraktion amDienstag in einer Presseerklärung. Alle Waffenlieferungen an die Türkei seien sofort einzustellen. Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Fraktion, sprach ergänzend von einem »schweren Rückschlag für alle Bemühungen um eine politische und demokratische Lösung der kurdischen Frage«. Nach Ansicht der bündnisgrünen Abgeordneten Claudia Roth widerspricht das Urteil den »europäischen Menschenrechtsstandards«. Die türkische Öffentlichkeit sei »derart aufgewiegelt« worden, daß ein milderes Urteil nicht mehr vermittelbar gewesen sei und zu einem »Aufschrei der von Rachegedanken genährten Bevölkerung« geführt hätte. Bereits der Prozeß gegen Öcalan, so Roth, habe »erhebliche Verfahrensmängel« aufgewiesen. Die Arbeit der Verteidigung sei behindert. Innenminister Otto Schily und Justizministerin Herta Däubler- Gmelin äußerten Bedauern über das Urteil und appellierten an die Türkei, es nicht zu vollstrecken. Gleichzeitig rief Schily die Kurden in Deutschland zur Friedfertigkeit auf. Sie sollten sich »nicht zu unbedachten Handlungen hinreißen lassen und auf den weiteren Rechtsweg vertrauen«. Reimar Paul