junge Welt 29.6.99

Unterstützt Südafrika Abdullah Öcalan?
junge Welt sprach mit Ebrahim Ismail Ebrahim

* Ebrahim Ismail Ebrahim ist gerade zum zweiten Mal als Abgeordneter des ANC in das südafrikanische Parlament gewählt worden

F: Im Verfahren gegen den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan soll am heutigen Dienstag ein Urteil ergehen. Es wird mit der Höchststrafe, dem Todesurteil, gerechnet. Herr Ebrahim, Sie engagieren sich für die Freilassung Öcalans. Was hat Südafrika mit Kurdistan zu tun?

Unser Kampf gegen die Apartheid hat viel internationale Unterstützung bekommen. Das haben wir nicht vergessen. Wir unterstützen nicht nur den Kampf um Selbstbestimmung des kurdischen Volkes, sondern auch den der Völker Palästinas, Osttimors oder in der Westsahara. Aus der Solidarität mit unserem Kampf ist eine Vielzahl politischer Beziehungen weltweit entstanden. Mit Herrn Öcalan verbindet mich persönlich allerdings, eine ähnliche Erfahrung gemacht zu haben. Ich habe im bewaffneten Arm des ANC gekämpft und wurde 1964 verhaftet, in dem Jahr, in dem auch Nelson Mandela verhaftet wurde. Erst 1979 wurde ich aus der Haft entlassen. Damals bin ich ins Exil gegangen, um von dort aus weiterzukämpfen. 1986 wurde ich in Swasiland gekidnappt und in Südafrika vor Gericht gestellt. Ich war sechs Monate in Isolationshaft und wurde gefoltert. Damals gab es weltweite Proteste gegen meine Verschleppung. Ich wurde trotzdem verurteilt. Der Richter sagte damals, es sei nicht sein Problem, wie ich vor das Gericht gekommen sei. Aber meine Anwesenheit gebe ihm das Recht, mich zu verurteilen. Das tat er dann auch. Ich wurde erst 1991 wieder freigelassen.

F: 1986, zum Zeitpunkt Ihrer zweiten Verurteilung, rechnete kaum jemand damit, daß das Apartheidsystem jemals abgeschafft werden würde. Trotzdem ist es gelungen. Gibt es Erfahrungen, die der ANC gemacht hat, die auch beispielsweise für die Lösung des Kurdistan-Konfliktes eine Rolle spielen könnten?

Daß wir das Problem auf friedliche Art und Weise regeln konnten, wurde weltweit als Wunder betrachtet. Wir dachten doch alle, dazu brauchen wir eine blutige Revolution. Aber dann haben wir vom ANC erkannt, daß ein Dialog mit den Unterdrückern notwendig ist. Mandela fing schon vom Gefängnis aus an, mit der Regierung zu verhandeln. Er sagte: »Wir können jetzt noch zwanzig Jahre mit Krieg und Zerstörung weitermachen. Am Ende werden wir an einen Punkt kommen, an dem wir uns dann zusammensetzen müssen. Warum setzen wir uns nicht gleich hin und reden? Dann können wir uns diese zwanzig Jahre Leid ersparen.« Ich denke, daß der Konflikt zwischen der Türkei und Kurdistan auch an einem solchen Punkt angelangt ist.

Abdullah Öcalan hat während des Prozesses ja immer wieder betont, daß er dazu bereit ist. Die türkische Regierung muß jetzt durch internationalen Druck gezwungen werden, auf dieses Angebot einzugehen. Die kurdische Befreiungsbewegung braucht aber auch die Unterstützung der fortschrittlichen Kräfte in der Türkei. Das türkische Volk kann niemals frei sein, solange es das kurdische Volk unterdrückt. Im Moment ist noch offen, was mit Abdullah Öcalan geschehen wird. Die Staatsanwaltschaft fordert die Todesstrafe. Die Regierungen Europas und der USA setzen die türkische Regierung unter Druck, die Todesstrafe nicht zu verhängen und schon gar nicht zu vollstrecken.

F: Wenn die Türkei sich beispielsweise dazu durchringen könnte, Abdullah Öcalan ausreisen zu lassen, soweit ein Staat sich bereitfindet, ihn aufzunehmen - würde Südafrika ihm Asyl gewähren?

Wir fühlen uns an die Genfer Konvention gebunden. Dazu gehört für uns auch, politisch Verfolgte aufzunehmen. In Südafrika leben Flüchtlinge aus vielen afrikanischen Staaten. Wir schicken niemanden weg, der politisch verfolgt wurde. Daran kann in bezug auf Abdullah Öcalan ja kein Zweifel bestehen. Ich kann natürlich nicht für die südafrikanische Regierung sprechen. Aber ich würde mich dafür einsetzen. Und ich schätze es so ein, daß die Regierung sich für seine Aufnahme entscheiden würde.

Wir wollten eine Gesellschaft der Gleichheit. Gleiche Rechte für alle, unabhängig von ethnischer, geschlechtlicher oder religiöser Zugehörigkeit und unabhängig von kulturellen Unterschieden. Wir wollten den Schutz der Menschenrechte für alle Individuen. Dazu gehört die eigene Sprache und die Ausübung der eigenen Kultur. In Südafrika gibt es beispielsweise elf offizielle Amtssprachen, etwa zwanzig weitere werden anerkannt. In unserer Verfassung ist das allgemeine und freie Wahlrecht, der Pluralismus der Parteien und die Organisationsfreiheit garantiert. Mit der neuen Verfassung bekamen die Frauen das Wahlrecht.

F: Verfassungsmäßig garantierte Rechte machen sich nicht immer im täglichen Miteinander bemerkbar.

Das geht natürlich nicht ohne Widersprüche vonstatten. Nach den Wahlen 1994 stellte der ANC zwar die Regierung, aber wir hatten keine Kontrolle über die Administrationen, über die Justiz, über den Polizei- und den Militärapparat. Das alles war von Weißen dominiert - und ist es zum größten Teil immer noch. Also konnten wir unsere Vorstellungen nur in kleinen Schritten umsetzen.

Es wird noch ein weiter Weg sein, bis die Auswirkungen der Apartheid in der Gesellschaft endgültig beseitigt sind. Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Inzwischen gibt es viele schwarze Richter. Das wäre vorher überhaupt nicht denkbar gewesen. Und wir haben die verfassungsmäßige Kontrolle über das Rechtssystem.

F: Die schwarze Bevölkerung in Südafrika lebte nicht nur entrechtet, sondern auch in unbeschreiblicher Armut. Was hat sich wirtschaftlich verändert?

Südafrika ist ein kapitalistisches Land. Und die ökonomische Macht ist nach wie vor in den Händen der Weißen. Wir versuchen, die Kapitalisten in die Umwälzung einzubeziehen. Es gibt Partnerschaften zwischen weißen Konzernen und der schwarzen Bevölkerung, die Patriotic Capitalists, die die schwarze Unabhängigkeitsbewegung unterstützen. Die Armut läßt sich natürlich nicht von heute auf morgen abschaffen. Trotzdem haben wir eine Menge erreicht. Seit 1994 haben wir 750000 Familien Häuser zur Verfügung stellen können. Drei Millionen Menschen haben Trinkwasser bekommen. Früher mußten sie kilometerweit zum nächsten Fluß wandern, jetzt werden sie vor Ort versorgt. Zwei Millionen Menschen bekamen Elektrizität. Anderthalb Millionen Kinder können in die Schule gehen. Die Schulen sind zwar total überfüllt, aber die Kinder haben Zugang zu Bildung. Schwangere und Kinder bis sechs Jahre werden kostenlos medizinisch versorgt. Das sind enorme Fortschritte, und ich denke, wir können zu Recht stolz darauf sein.

Obwohl die ökonomischen Probleme natürlich nicht vom Tisch sind, haben wir bei den letzten Wahlen sogar ein besseres Wahlergebnis als 1994 erreicht. Damals bekamen wir 62 Prozent der Stimmen, jetzt waren es 66. Die Menschen unterstützen den ANC, weil sie wissen, daß keine andere Partei die Schwierigkeiten in unserem Land lösen kann. In Südafrika leben vierzig Millionen Menschen, die meisten davon in unbeschreiblicher Armut. Und wir müssen deren Probleme lösen. Das geht nicht ohne die wirtschaftliche Hilfe der kapitalistischen Staaten.

F: Beinhaltet das nicht die Gefahr, abhängig und letztlich erpreßbar zu werden?

Wir sind jetzt ein demokratisches Land. Unser Ziel ist natürlich nach wie vor ein freies Afrika, das Ende von Militärdiktaturen und korrupten Regimes auf dem afrikanischen Kontinent. Wir unterstützen Demokratisierungsprozesse auf dem gesamten Kontinent. Wir wollen keine neue Kolonie werden und werden niemandem erlauben, uns unsere Politik zu diktieren. Wir müssen es schaffen, wirtschaftlich mit den kapitalistischen Staaten zu kooperieren, aber politisch unabhängig zu bleiben und unsere Demokratie zu schützen.

Interview: Birgit Gärtner, Hamburg