Badische Zeitung, 29.6.99

„Wir verstehen die Welt nicht mehr“
Nicht nur der kurdische Exil-Schriftsteller Haydar Icik rechnete auf einer Podiumsdiskussion mit der deutschen Türkei-Politik ab

„Wie lange noch: Offene Grenzen für Waffen, aber nicht für Flüchtlinge? Zur aktuellen Problematik deutscher Rüstungsexporte in die Türkei“. So lautete der Titel einer Podiumsdiskussion des Rüstungs-Informationsbüros Baden-Württemberg e.V. (RIB) am Samstag in Freiburg, die der rot-grünen Bundesregierung eine „verlogene Politik“ im Kampf für die Menschenrechte und Flüchtlinge und gegen den Völkermord an den Kurden in der Türkei attestierte.

„Wir Kurden vermissen die Solidarität der Deutschen“, sagte der kurdische Schriftsteller Haydar Icik. Der 58jährige ehemalige Lehrer, der in München lebt, setzt sich als Mitglied des kurdischen Exilparlaments nun ganz für die Sache der Kurden ein. Die gesetzwidrige Verschleppung des Kurdenführers Abdullah Öcalan, an der auch die Bundesrepublik „erhebliche Schuld“ treffe, habe die Kurden in aller Welt aufgebracht, „aber auch zusammengebracht – eine paradoxe Hilfe“, wie Icik vor etwa 40 Zuhörern im Forum Vauban bemerkte.

„Wenn Öcalan in der Türkei aufgehängt wird – und wir sind davon überzeugt – , dann wird es einen totalen Krieg zwischen Kurden und Türken geben, und das müssen wir verhindern!“ Öcalan habe vor Gericht die Sache der Kurden nicht verraten, wie ihm vorgeworfen werde: „Er bleibt dabei, daß die Kurden mit den Türken in Frieden leben können“. Dafür müsse aber Öcalan selbst am Leben bleiben und der Druck, gerade aus Deutschland, auf die Türkei verstärkt werden.

„Wir verstehen die Welt nicht mehr“ – so kommentierte der kurdische Schriftsteller die Tatsache, daß Deutschland „in einem Angriffskrieg“ für die Menschenrechte von zwei Millionen Kosovaren in den Krieg zieht, gegen den Völkermord an den 15 bis 20 Millionen Kurden in der Türkei aber so wenig unternimmt. Mit seinem Roman „Der Agha aus Dersim“ hat Icik an ein Massaker erinnert, bei dem bereits 1938 mehr als 70000 Kurden in der Türkei umgebracht worden sind.

Iciks Vorwurf an die Bundesrepublik, sie sei mit ihren Waffenlieferungen an die Türkei mit schuld daran, „daß in Kurdistan seit 15 Jahren der Krieg tobt“, bestätigte Thomas Klein, Türkei-Experte von der Wiesbadner „Kampagne gegen Rüstungsexport“. Seit 1964 sei die Bundesrepublik neben den USA der Hauptlieferant von Waffen an die Türkei, und dies noch verstärkt nach dem Militärputsch von 1980. Es sei seit langem mit Fotos auch dem Auswärtigen Amt nachgewiesen, daß die 250 Schützenpanzer und 250 000 Kalaschnikows aus Beständen der ehemaligen DDR vom türkischen Militär auch gegen die Kurden und die PKK eingesetzt werden.

Die Debatte, ob das wirklich so sei, nannte Klein „einfach lächerlich und jämmerlich“. Diese Tatsache stelle aber einen Vertragsbruch der Türkei dar, für den die Bundesrepublik „eigentlich sofort ein Embargo verhängen“ müßte.  Doch das Gegenteil sei zu befürchten: Im Bundessicherheitsrat sei die Frage, ob 200 Leopard-Panzer an die Türkei geliefert worden, zwar durch den Einspruch auch von Joschka Fischer erstmal „auf Eis gelegt“ worden, doch der industrie-hörige Kanzler Schröder wolle, so Jürgen Grässlin, das Veto-Recht des Bundessicherheitsrats aushebeln. „Dann müssen wir uns überlegen, ob wir nicht auch gegen diese Regierung eine Völkermord-Anzeige erstatten sollten“, so Grässlin.

Er zeigte sich auch sehr enttäuscht darüber, daß das Auswärtige Amt trotz der Zusage von Staatsminister Ludger Vollmer (Bündnisgrüne) keinen Vertreter zur Diskussion nach Freiburg ge-schickt hatte. Die Bundesregierung sei auf dem Weg, eine ähnliche Politik gegen die Kurden wie die Türkei zu machen, urteilte Christian Möller vom Südbadischen Aktionsbündnis gegen Abschiebung (SAGA). „Wir hatten gedacht, daß es mit Rot-Grün bei den Abschiebungen nicht so schlimm weitergeht, doch inzwischen wissen wir: Es geht weiter abwärts“, stellte er fest – wie jüngste Beispiele aus Freiburg zeigten, werden selbst Familien auseinandergerissen. Weiterhin werden, so Möller, neun von zehn Kurden als Aslysuchende abgelehnt, dies bei 80 Mark Taschengeld ohne realistische Chance auf Rechtsbeistand und auf übersetzte Verfahrensunterlagen. Frauenspezifische Fluchtgründe? Regelung der Altfälle? „Gibt’s nicht – man hat den Eindruck, man will sich auch diese Fälle durch Abschiebung vom Hals schaffen“. Und sehr oft, so Möller, „hören wir von ihnen in der Türkei nichts mehr...“

Bernd Serger