Süddeutsche Zeitng 29.6.99

Kurdenproblem nicht mehr tabu
Ankara stimmt die Öffentlichkeit behutsam auf eine liberalere Minderheiten-Politik ein

Von Wolfgang Koydl 
In Frankreich sollen Bretonen, Elsässer und Katalanen ihre Sprache sprechen dürfen; in Spanien verhandelt die Madrider Zentralregierung mit der baskischen ETA, und in Großbritannien haben Schotten und Waliser soeben ihre eigenen Parlamente erhalten: Zumindest im friedlichen West-Europa scheinen für nationale Minderheiten zum Ausklang dieses Jahrhunderts bessere Zeiten anzubrechen. Sieht man einmal von den ethnischen Hexenkesseln auf dem Balkan und im Kaukasus ab, dann blieben nur die Kurden ohne kulturelle und politische Autonomie.

Aber auch ihr Schicksal soll sich verbessern, und die Grundlage für diesen Meinungswandel der türkischen Machthaber ist ausgerechnet das Urteil gegen die kurdische Symbolgestalt Abdullah „Apo“ Öcalan. Seit Beginn des Prozesses gegen den Führer der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) vor gut vier Wochen haben sich die Indizien verstärkt, daß die Türkei erstmals zu gewissen Zugeständnissen an die kurdische Bevölkerungsgruppe bereit ist. Wirtschaftliche, soziale und politische Offensiven sollen offensichtlich die militärischen Aktionen der vergangenen 15 Jahre ablösen.

Schritt für Schritt haben die Massenmedien die Öffentlichkeit auf den neuen Kurs eingestimmt. In der Tageszeitung Milliyet beispielsweise rief der frühere Spitzendiplomat Sükrü Elekdag dazu auf, das kurdische „Tabu zu beseitigen“. Öffentlich widersprach der angesehene Ex-Botschafter sogar dem Regierungschef: „Jetzt schreibt Bülent Ecevit in einem Brief an Bundeskanzler Schröder, daß es kein Kurdenproblem gibt. Aber landesweit und im Südosten des Landes zeigen Meinungsforschungsberichte, daß die erdrückende Mehrheit unseres Volkes das Kurdenproblem als nationales Problem sieht.“ Noch vor zwei Monaten wäre ein Autor für solche Äußerungen hinter Gitter gekommen.

Als „beschämend“ bezeichnete es Elekdag zudem, daß türkische Behörden noch nicht einmal wüßten, wieviele Menschen kurdischer Abstammung überhaupt innerhalb der Landesgrenzen lebten: „In der Türkei ist die kurdische Identität ein Tabu. Deshalb sind unsere Untersuchungen darüber sehr dünn, während andere Staaten das Thema in allen Dimensionen untersuchen“, schrieb er. Der Diplomat erhielt Flankenschutz von einem früheren Vorgesetzten: Der ehemalige Außenminister Ilter Türkmen schrieb in einem Zeitungskommentar zur Kurdenfrage, daß „kein Problem durch Verbote und Gewalt gelöst werden“ könne.

Ein anderer staatstreuer Zeitungskolumnist, Hasan Cemal, sah sich persönlich in den kurdischen Städten Diyarbakir, Cizre, Sirnak und Mardin um und hatte Erstaunliches zu berichten: „Was würde sich schon ändern, wenn man Apo hängt“, hätten ihm die Leute auf der Straße gesagt. „Wäre es nicht besser, wenn man ihn nicht aufhängen würde?“ Viel wichtiger sei es doch, daß der Krieg beendet und das Problem gelöst werde.

Sogar Staatspräsident Süleyman Demirel wies Öcalan einen Weg, wie er dem Strick entgehen könnte. Öffentlich dachte er laut darüber nach, welche Berufungswege dem PKK-Chef nach dem Urteil des Staatssicherheitsgerichts offen stünden. Ausdrücklich erwähnte der Präsident dabei den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, eine Institution, für die der türkische Staat bislang nur wenig übrig hatte.

Zu diesen milden Tönen gegenüber dem „Staatsfeind Nummer Eins“ paßt es auch, daß die pro-kurdische „Demokratiepartei des Volkes“ (HADEP) seit Beginn des „Jahrhundertprozesses“ freier atmen kann. Vor Beginn des Verfahrens drohte HADEP ein Verbot wegen angeblich enger Verbindungen zur PKK; davon ist jetzt keine Rede mehr.

Mehr noch: Ausgerechnet die Zeitung Hürriyet, das lauteste Sprachrohr des türkischen Nationalismus, teilte ihren Lesern mit, daß ein umstrittenes Amnestiegesetz wieder auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt werden solle. Danach kann die Todesstrafe für PKK-Terroristen auf neun Jahre Haft reduziert werden. Sogar „Apo“ könnte in den Genuß dieser Amnestie kommen.

Vor diesem Hintergrund verschwinden die wenigen martialischen Töne, die noch zu hören sind. So hatten ein ehemaliger Heereskommandeur und ein aktiver General Gnade für den „Mörder von 30 000 Menschen“ rundum abgelehnt. „Er bettelt vor dem türkischen Volk um sein Leben“, hatte General Feridun Öztürk barsch erklärt. „Vergebens. Das hätte er sich überlegen müssen, als er noch ein Werkzeug ausländischer Mächte und Verräter war.“

Gründe für die neue konziliante Gangart gibt es viele. Zum einen können sich Armee und Staat mit dem Urteil gegen den „Separatistenführer“ als Sieger in dem 15 Jahre währenden Krieg präsentieren und somit ein wenig Großmut zeigen. Zum anderen wissen sie aber auch, daß dieser „Krieg geringer Intensität“, wie er beschönigend genannt wird, weder wirtschaftlich noch militärisch, weder innen- noch außenpolitisch länger zu rechtfertigen ist: Der Krieg ist teuer, die Menschen sind seiner müde, und zu allem Überfluß sind die volkswirtschaftlichen Daten so schlecht wie seit Jahren nicht. Zum erstenmal wird sogar offen darüber diskutiert, daß die Armee einen Teil ihres dicken Budgets für dringend benötigte Investitionen in den kurdischen Gebieten in der Südost-Türkei freigeben solle.

Außerdem erkennt man in Ankara mögliche Parallelen zwischen dem Krieg im eigenen Land und der Nato-Aktion im Kosovo. Bundesaußenminister Joschka Fischer erinnerte erst dieser Tage wieder daran, als sein Amt die Auslieferung von Fregatten an die Türkei stoppte. Aus Gründen der eigenen Glaubwürdigkeit könne man nicht die Serben bombardieren, weil sie die albanische Minderheit unterdrückten, aber die Türken aufrüsten, hieß es dazu in Bonn.