Hannoversche Allgemeine, 28.6.99

Türkische Nation will Rache an Öcalan

Gnade? Nicht für Abdullah Öcalan. "Der Mörder von 30 000 Menschen bettelt jetzt um sein Leben, aber das wird vergeblich sein", versichert General Feridun Öztürk. Reue? "Daran hätte Öcalan denken sollen, als er sich zum Werkzeug von Verrätern und fremden Mächten machte", meint Öztürk. Lange haben die türkischen Militärs zum Fall Öcalan geschwiegen. Aber jetzt, rechtzeitig vor dem für Dienstag angekündigten Urteil, haben sie sich zu Wort gemeldet.

Zwar wurde der bisher dem Staatssicherheitsgericht beisitzende Militärrichter jetzt mit Hilfe einer Verfassungsänderung gegen einen zivilen Ersatzrichter ausgetauscht; damit hofft die Regierung in Ankara einen bereits mehrfach vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgebrachten Kritikpunkt auszuräumen. Aber mitreden wollen die Militärs im Fall Öcalan weiterhin, wie General Öztürks Stellungnahme zeigt.

Mit seinem Plädoyer setzt sich der Offizier deutlich von Staatspräsident Süleyman Demirel ab, der vergangene Woche erstmals angedeutet hatte, man könne Öcalan die Hinrichtung ersparen. Mit dem für Dienstag erwarteten (Todes-) Urteil sei "der Fall nicht zu Ende", philosophierte Demirel, schließlich gebe es noch die Revisionsinstanz, das Parlament, das einer Hinrichtung zustimmen müsse, und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der "die Prozedur stoppen" könne.

Das könnte in der Tat für den PKK-Chef die letztlich rettende Instanz sein. Zunächst aber hat Öcalan nichts unversucht gelassen, den Vorsitzenden des 2. Senats des Staatssicherheitsgerichts, Turgut Okyay, und seine beiden Beisitzer milde zu stimmen. Vieles, was er in seinem Schlußplädoyer vortrug, klang noch erstaunlicher, als die schon überraschende Ouvertüre dieses Prozesses. Damals hatte sich der von den türkischen Medien als "Bestie", "Satan" und "Babykiller" vorverurteilte Angeklagte in seinem Glaskäfig vor den Angehörigen der Opfer des Kurdenkrieges verneigt und erklärt: "Ich teile ihre Trauer, es tut mir leid."

"Untrennbar", so Öcalan in seiner Verteidigungsrede, seien die Kurden mit der türkischen Nation verbunden, und deren "Großartigkeit ist eine Realität". "Hier ist unser Platz", gelobte der PKK-Chef, der in den vergangenen 15 Jahren Tausende von Menschen, Kurden und Türken, dem Kampf für einen eigenen Kurdenstaat opferte. Jetzt aber sieht er seine PKK als "einen Bestandteil der demokratischen Strukturen" in der Türkei, als "vereinigende Kraft" sogar.

Mitunter hörte es sich so an, als habe Öcalan mit seiner Organisation gar nichts mehr zu tun: Die PKK sei "ein Kind des Kalten Krieges", längst aber in eine "Sackgasse" geraten. "Man muß der PKK sagen, sie soll ihre Fehler beenden", erklärte Öcalan, als sei er Staatsanwalt und nicht Angeklagter.

Nach seiner Verteidigungsrede machte Öcalan eine artige Verbeugung, lächelte in den Saal und winkte durch das Panzerglas seinem Bruder und seiner Schwester zu, die im hinteren Teil des Gerichtssaales saßen. "Er wird sterben, er wird sterben", skandierten unterdessen die als Nebenkläger anwesenden Hinterbliebenen der "Märtyrer", wie man in der Türkei die im Kurdenkrieg gefallenen Soldaten nennt.

Eine verunsicherte Nation, hin- und hergerissen zwischen europäischen Ambitionen, großtürkischen Träumen, orientalischen Traditionen und religiösem Fanatismus, will Rache nehmen an einem, der zum "Staatsfeind Nummer 1" aufgebaut wurde. Die Identitätsprobleme, die Selbstzweifel der Nation spielen im Kurdenkonflikt und also auch in diesem Prozeß eine gewaltige Rolle. Nichts versinnbildlicht sie deutlicher als die riesigen türkischen Nationalflaggen, mit denen sich die Angehörigen der "Märtyrer" im Gerichtssaal drapieren.

Gibt es in diesem bedrückend militanten Klima der Vorverurteilung überhaupt eine Chance für die Verteidiger, Gehör zu finden? Öcalans Anwälte versuchen es zumindest, auch wenn deutlich wird, daß nicht einmal der Angeklagte seinen Verteidigern und deren Ausführungen viel Bedeutung beimißt. Nachdem Öcalan die ihm in der Anklage zur Last gelegten Verbrechen gestanden hat "und viele andere, die sie nicht erwähnt haben", wie er selbst zum Prozeßauftakt dem Vorsitzenden Okyay erklärte, hat die Verteidigung nur noch wenig Spielraum. "Apo", wie Freunde und Feinde Öcalan in der Türkei nennen, habe schließlich keinen der ihm zur Last gelegten Morde selbst begangen, argumentiert der Verteidiger Kemal Bilgic, auch vom Ziel eines eigenen Kurdenstaates habe er sich seit Anfang der 90er Jahre distanziert. Deshalb könne man ihn nicht des Hochverrats oder Separatismus schuldig sprechen sondern allenfalls wegen Gründung einer kriminellen Vereinigung verurteilen. Darauf stehen "nur" 15 Jahre Haft.

Natürlich könne der Staat Tausende weiterer Rebellen töten, meinten Öcalans Verteidiger. Aber damit werde die Kurdenfrage ebensowenig aus der Welt geschafft wie mit einer Hinrichtung Öcalans. Rechtsanwalt Ahmet Avsar warnt: "Neue PKKs werden entstehen, neue Apos kommen."

Als Ahmet Avsar zu einer ausführlichen historischen Darstellung des Kurdenproblems anhebt, scheint Öcalan in seinem Glaskäfig einzunicken. Eine "Märtyrer"-Mutter aber springt auf und schreit dem Anwalt zu: "Ich bin nicht hergekommen, um deine Fabeln zu hören - ich will meinen Sohn zurück. "

Gerd Höhler, Ankara