Neue Züricher Zeitung 26.6.99

Beleidigt und uneinsichtig

tf. Das Themas «Europäische Union» vermag in Ankara wenig Begeisterungsstürme auszulösen. Noch immer wird der Luxemburger EU-Gipfel im Jahr 1997, als der Türkei wegen ihrer unrühmlichen Interpretation von Minoritätenrechten der Status eines offiziellen Beitrittskandidaten verweigert wurde, als Ungerechtigkeit und Schmach empfunden. Seither gibt sich die verschmähte Braut gekränkt und fühlt sich unverstanden.

Im Gespräch versucht der neue Regierungschef Bülent Ecevit zwar, diese Stimmung zu kaschieren: Es gebe auch Regionen ausserhalb der EU, meint er lapidar. Dennoch: Die volle EU-Mitgliedschaft bleibt aussenpolitisches Ziel, zumal sie von der Regierung als geographisches, historisches und vertragliches Recht der Türkei betrachtet wird, nicht zuletzt auf Grund des 1963 mit der EU geschlossenen Assoziationsabkommens. Für dieses Ziel irgendwelche Konzessionen einzugehen steht für Ecevit jedoch nicht zur Diskussion. Und mit leicht drohendem Unterton fügt er an, dass man sich in Brüssel offensichtlich der geostrategisch bedeutsamen Lage der Türkei nach dem Ende der bipolaren Weltordnung noch immer nicht bewusst sei. «In den Vereinigten Staaten ist dies anders.»

Eher scheint sich der Politiker mit linkem Parteibuch und nationalistischer Gesinnung mit dem Gedanken des ewigen Abseitsstehens abfinden zu wollen, als der EU - «einer religiösen Einheit, die trotz unserer säkularisierten Staatsauffassung keine fremde Religion in ihrem Kreis zu dulden scheint» - eine Einmischung in Menschenrechtsfragen einzugestehen. Die Regierung, die gemäss offizieller Sprachregelung kein Kurdenproblem, sondern ausschliesslich ein Terrorismusproblem kennt, vermag die schicksalhafte Abhängigkeit der ökonomischen Reputation (und der dringend benötigten Investitionen) von Fortschritten bei den Menschenrechten meisterhaft zu verdrängen.

Nach der beleidigt zur Kenntnis genommenen Geste aus Luxemburg, die in türkischer Diktion primär auf die Obstruktionspolitik des Erzfeindes Griechenland zurückgeführt wird, wurden die Fühler wieder verstärkt in Richtung Amerika ausgestreckt - ein Land, von dem man sich wenigstens keine Vorwürfe im Zusammenhang mit der Todesstrafe gefallen lassen muss. Ob die seit einem Monat im Amt stehende neue Regierung dereinst die Todesstrafe abzuschaffen gedenkt, will Ecevit nicht beantworten. Die junge Koalition habe noch keine Zeit gefunden, sämtliche Themen zu diskutieren.

Derweil erwartet den Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, am kommenden Dienstag auf der Gefängnisinsel Imrali die Verkündigung ebendieser Strafe. Dass der Ausgang des Öcalan- Prozesses auch für die Beurteilung einer eventuellen EU-Mitgliedschaft von Bedeutung sein könnte, verneint Ecevit: «Ich sehe keinerlei Beziehung zwischen diesen zwei Dingen. Das Verfahren gegen Öcalan ist eine ausschliesslich juristische Angelegenheit.» Und wenn einige europäische Nationen versucht hätten, mit der Unterstützung Öcalans die Türkei zu destabilisieren, dann seien sie mit diesem Ansinnen klar gescheitert. - Der Funkverkehr zwischen Ankara und Brüssel scheint auch unter den Vorzeichen der neuen türkischen Regierung auf zwei verschiedenen Frequenzen zu verlaufen.