Süddeutsche Zeitung, 26.6.99

600 000 Dokumente über mögliche Verfolgerländer 
Folterbericht im Computer
Eine bundesweite Informationsstelle in Wiesbaden soll bald Asyl-Entscheider unterstützen 

Von Martin Zips
Wiesbaden, 25. Juni – Verwaltungsgericht Wiesbaden, erster Stock, Raum 15. In vier Zimmern stapeln sich Ordner, Zeitungen, Disketten. Hinter einem vollbepackten Schreibtisch sitzt ein Mann mit sehr dicker Brille. Heinz Stanek ist Leiter der „Informations- und Dokumentationsstelle des Verwaltungsgerichts Wiesbaden“ (IuD). Selbst auf der Krawatte des 48jährigen Politologen sind Bücher abgebildet; keine Frage, der Mann ist vom Lesen besessen. Und vom Sammeln: Gemeinsam mit vier Mitarbeitern hat der Archivar in 18jähriger Arbeit bereits über 600 000 Dokumente gesammelt, in denen die politische Situation in fast allen Ländern der Erde dokumentiert wird. Täglich kommt neues Material hinzu. Stanek ordnet alles, „vom Folterbericht über das PKK-Flugblatt bis zum Fernsehbeitrag.“ Was wichtig ist, wird in eine Datenbank eingespeist. Diese liefert den Verwaltungsgerichten aktuelle Informationen, wenn sie zu entscheiden haben, ob ein Asylbewerber abgelehnt oder anerkannt wird.

Eigentlich ist Stanek allein für die hessischen Gerichte zuständig. Hessen ist das einzige Bundesland, das sich seit der 1981 begonnenen Dezentralisierung der Asylstreitverfahren ein solches Archiv leistet. Doch auch in anderen Bundesländern besteht Informationsbedarf: 70 Prozent der Anfragen kommen von außerhalb. Technisch, sagt Stanek, bestehe bereits die Möglichkeit, die Computer aller deutschen Gerichte so zu vernetzen, daß sie die IuD-Datenbank asylfact nutzen können.

Nächtliche Computerkonferenzen

So, wie es in Hessen schon seit Jahren funktioniert: Nachts schließen sich die Computer automatisch zu einer „Update“-Schaltkonferenz zusammen, aktualisieren ihre Daten. Am nächsten Tag können sich die Gerichtsmitarbeiter in den verschiedenen Städten vor die Bildschirme setzen und recherchieren. Wenn sie mehr Material benötigen, müssen sie nur in Wiesbaden anrufen. Weil die Verpflichtung zur Amtshilfe besteht, muß die IuD grundsätzlich alle deutschen Gerichte bedienen. Finanziert wird das bisher allein vom hessischen Steuerzahler; es kostet ihn jährlich eine Million Mark. Nicht nur Stanek sagt, daß es so nicht weitergehen kann. Anfang Juni beschloß die Justizministerkonferenz, daß eine Umwandlung der hessischen Dokumentation zu einer Deutschen Asylfakten Dokumentation (DAD) „begrüßenswert“ sei. Nun prüfen Bund und Länder, ob und wie sie sich an den zwei Millionen Mark beteiligen können, die das neue Archiv im Jahr kosten würde.

„Wir versuchen, neutral zu sammeln“, betont Stanek. Schließlich arbeite sein Archiv für die Gerichtsbarkeit, nicht für die Politik. Er archiviert auch Gutachten von Universitäten, Artikel von amnesty international, Caritas, dem Flüchtlings-Hochkommissar der Vereinten Nationen UNHCR, Zeitungsberichte. Auch die Lageberichte des Auswärtigen Amtes werden abgeheftet. Deren Aktualität ist in der Vergangenheit immer wieder kritisiert worden. Zum Beispiel, wenn der Jugoslawien-Lagebericht noch im November vergangenen Jahres den Kosovo-Flüchtlingen „Zentralserbien (hier insbesondere Belgrad)“ als „inländische Fluchtalternative“ anrät.

Eine bundesweite Asylfakten-Dokumentationsstelle könnte in Zukunft die umstrittenen Lageberichte als wichtigste Entscheidungsgrundlage der Gerichte ablösen. Menschenrechtsorganisationen, Hilfswerke und Flüchtlingshelfer kritisieren schon seit Jahren, daß die Berichte aus dem Auswärtigen Amt die Richter oft auf eine gefährlich falsche Fährte setze. Pro Asyl zum Beispiel fordert von der rot-grünen Regierung seit Monaten eine Aktualisierung des Türkei-Lageberichts. Nach der Festnahme Öcalans müsse man von „neuen, systematischen Folterungen“ der Kurden ausgehen, sagt Pro Asyl-Sprecher Heiko Kauffmann. Zudem reichten 57 Berichte für 143 429 Asylbewerber aus 120 Ländern (im Jahr 1998) schlicht nicht aus.

„Man soll die Bedeutung von Lageberichten in Asylverfahren nicht überbewerten“, verteidigt Erich Wilhelm vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Nürnberg, das dem Innenministerium unterstellt ist, die bisherige Praxis. „Auch unsere Entscheider bedienen sich aus einer umfangreichen Bibliothek, aus Länderreports und eigens angefertigten Expertisen.“ Klagt der Asylbewerber gegen die Entscheidung, muß ein Verwaltungsgericht über seinen Fall verhandeln. Derzeit werden etwa 80 Prozent der Ablehnungen angefochten; Ende Januar liefen noch mehr als 220 000 Verfahren. „Natürlich wäre es sinnvoll, irgendwann auch ein europäisches Archiv einzurichten“, sagt Stanek. Vergangene Woche trafen sich Richter aus fast allen EU-Ländern in Wiesbaden, diskutierten die Vorteile einer zentralen Dokumentationsstelle. Schließlich wird in Brüssel eine gemeinsame EU-Linie bei den Asylverfahren angestrebt.

Beim Bund Deutscher Verwaltungsrichter jedenfalls zeigt man sich von der Vernetzungsidee begeistert: „Das könnte eine effektive Sache werden“, sagt Hans-Jörg Lieberoth-Leden, stellvertretender Vorsitzender. „Für die Gerichte wäre ein neutrales Archiv mit aktuellen Berichten absolut wünschenswert.“