Frankfurter Rundschau 23.6.

Neuen Lagebericht Bonns zur Türkei verlangt
Organisationen prangern Menschenrechtsverletzungen an / Pro Asyl: Systematische Verstöße

Von Canan Topçu

Die Bundesregierung soll unverzüglich einen neuen Lagebericht zur Menschenrechtssituation in der Türkei vorlegen. Das forderten Pro Asyl, Niedersächsicher Flüchtlingsrat und die deutsche Sektion der internationalen Organisation Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) am Dienstag in Frankfurt.

FRANKFURT A. M., 22. Juni. Die Organisationen stellten auf einer Pressekonferenz drei dokumentierte Fälle von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei vor - daruter auch das Schicksal des Kurden Hüseyin Öztürk. Er sei Ende März 1999 in die Türkei abgeschoben und nach seiner Ankunft in Istanbul zwei Tage lang schwer gefoltert worden, berichtete Claudia Gayer vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat. Nach Informationen des Istanbuler Menschenrechtsvereins werde Öztürk wegen Separatismus angeklagt. Die Staatsanwaltschaft fordere die Todesstrafe.

In Deutschland sei Öztürk mit seinem Verfolgungsschicksal auf taube Ohren gestoßen, erklärte Gayer. Dem Kurden sei nicht geglaubt worden, daß er von den türkischen Behörden gesucht wurde, weil er als Jugendlicher gezwungenermaßen die kurdische Guerilla unterstützt habe.

Alle 20 Fälle, die Pro Asyl und der Niedersächsische Flüchtlingsrat 1998 und 1999 dokumentierten, verdeutlichten die systematischen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, sagte Pro-Asyl-Sprecher Heiko Kaufmann. Die hiesigen Gerichte hätten die Verfolgungschicksale nicht ernst genommen, die Unterlagen nicht ausreichend überprüft oder als Fälschung abgewertet. Pro Asyl und der Flüchtlingsrat führen die Abschiebepraxis der deutschen Behörden auf den Lagebericht zurück, der bei Asylverfahren einem Großteil der Richter und den Innenministern als Grundlage für Entscheidungen diene.

Zwar mache der "ad-hoc-Lagebericht" von Ende Februar dieses Jahres auf ein erhöhtes Risiko für abgeschobene kurdische Flüchtlinge aufmerksam. Die bisherige Einschätzung, wonach abgeschobenen Kurden in der Westtürkei keine Verfolgung drohe, werde aber auch in dem "korrigierten" Bericht ausdrücklich bestätigt, erklärte Kai Weber vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat.

Bereits im Februar hätten Pro Asyl und der Flüchtlingsrat der Bundesregierung zehn Fälle von Kurden vorgelegt, die nach ihrer Ausweisung in die Türkei inhaftiert, mißhandelt und gefoltert worden seien. "Das Auswärtige Amt hat aber bislang auf unsere Forderungen nicht reagiert", kritisierte Weber die Bundesregierung, die ihr vor den Wahlen gemachtes Versprechen, eine menschenwürdige Außenpolitik zu betreiben, nicht einhalte.

Die Menschenrechtsorganisationen fordern neben der Neubewertung der Türkeipolitik auch einen Abschiebestopp für Kurden, die Wiedereinreise der zu Unrecht abgeschobenen Asylsuchenden und die Aufkündigung des sogenannten deutsch-türkischen Konsultationsabkommens. "Durch diesen Informationsaustausch werden Oppositionelle den türkischen Behörden quasi auf dem Präsentierteller übermittelt", erklärte Weber.

Mehr Abschiebungen

MÜNCHEN (kna). Über den Münchner Flughafen sind im vergangenen Jahr so viele Ausländer wie nie zuvor in ihre Heimat abgeschoben worden. Auf diesen "traurigen Rekord" verweist der Kirchliche Flughafen-Sozialdienst (KSD) in seinem aktuellen Jahresbericht. Monatlich seien durchschnittlich 470 Personen betroffen gewesen.

Lüdenscheider Nachrichten, 23.6. Prozeß gegen Kurden wegen Konsulatsbesetzung - Pro Asyl fordert Abschiebestopp für Kurden aus der Türkei

Rund vier Monate nach der Besetzung des griechischen Generalkonsulats in Leipzig durch Sympathisanten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat am Dienstag ein erster Prozeß gegen fünf mutmaßliche Beteiligte begonnen. Wie ein Sprecher des Amtsgerichtes in Leipzig sagte, müssen sich die Kurden unter anderem wegen Landfriedensbruch im besonders schweren Fall und gemeinschaftlicher Freiheitsberaubung verantworten. Insgesamt 73 Kurden hatten am 16. Februar aus Protest gegen die Festnahme von PKK-Chef Abdullah Öcalan das Generalkonsulat besetzt und drei Menschen als Geiseln genommen. Die Polizei hat das Gebäude gestürmt und die Geiseln unverletzt befreit.

In dem Prozeß gegen die fünf Kurden könnte das Urteil noch am Dienstag abend fallen. Nach Angaben der Leipziger Staatsanwaltschaft droht den Angeklagten alleine wegen des Vorwurfs des Landfriedensbruchs eine Mindeststrafe von sechs Monaten. Das Verfahren ist der Auftakt von insgesamt 13 Prozessen wegen der Konsulatsbesetzung vom Februar. Vor dem Leipziger Amtsgericht müssen sich bis Anfang August weitere 59 mutmaßliche Besetzer verantworten. Zudem will die Staatsanwaltschaft gegen neun Kurden Anklage wegen Geiselnahme erheben; dieser Prozeß soll dann vor dem Leipziger Landgericht stattfinden.

Unterdessen appellierten mehrere Hilfsorganisationen an die Innenminister der Länder, einen Abschiebestopp für Kurdinnen und Kurden aus der Türkei zu erlassen. Pro Asyl, der Niedersächsische Flüchtlingsrat und die Deutsche Sektion der internationalen Ärzteorganisation IPPNW forderten das Auswärtige Amt auf, "unverzüglich" einen neuen Lagebericht zur Menschenrechtssituation in der Türkei vorzulegen. Pro Asyl-Sprecher Heiko Kauffmann erklärte, wenn allein der Niedersächsische Flüchtlingsrat und Pro Asyl 1998 und 1999 mehr als 20 Fälle systematischer Menschenrechtsverletzungen dokumentieren könnten, seien dies keine Einzelfälle mehr. "Es handelt sich um ein strukturelles Verfolgungsmuster: Abgeschobene Kurdinnen und Kurden sind von Folter und Verfolgung bedroht", betonte Kauffmann. (AFP)