Süddeutsche Zeitung 8.6.99

Telephon-Ohr hört allerhand
In der Türkei plaudern Verbrecher mit höchsten Beamten

Wenn es um die Verbindung zwischen Politik, Polizei und organisiertem Verbrechen geht, ist die türkische Öffentlichkeit einiges gewöhnt. Doch der Skandal, der nun ruchbar wurde, dürfte alles bisher Dagewesene bei weitem übertreffen. Zeitweise verdrängte er in den Zeitungen sogar den Öcalan-Prozeß auf die hinteren Seiten. Eine obskure Polizeibehörde in Ankara hat nämlich die Telephone von hunderten von Politikern, Journalisten und Spitzenjuristen überwacht – bis hinauf zu Regierungschef Bülent Ecevit. Staatspräsident Süleyman Demirel entging dem Lauschangriff wenigstens persönlich; nur die Leitungen seines Amtes waren angezapft worden. Die von den Medien als „Telekulak“ (Telephon-Ohr) getaufte Abhöraktion verschonte nicht einmal die höchsten Stellen des sonst so unantastbaren Militärs.

Kaum war diese Bombe geplatzt, folgte die zweite Detonation. Denn nun stellte sich heraus, daß ausgerechnet einige der meistgesuchten Schwerverbrecher des Landes regelmäßig Kontakt zu den höchsten Stellen der Republik gehabt hatten. Pikanterweise war diese Enthüllung das Ergebnis eines Versuches, den Schaden zu begrenzen. Cevdet Saral, der Chef des großen Ankaraner „Telephon-Ohres“, bestritt nämlich, Gespräche abgehört zu haben. Man habe nur kontrollieren wollen, welche Nummern die gesuchten Verbrecher denn so anriefen.

So wurde offenbar, daß Betrüger, Mafiosi und Auftragsmörder Beziehungen zu den besten Kreisen unterhielten. Im Mittelpunkt des Skandals steht ein steckbrieflich gesuchter Mann, der unter dem Decknamen „Yesil“ berühmt wurde. Der ehemalige PKK-Kämpfer sagte sich Anfang der neunziger Jahre von der „Arbeiterpartei Kurdistans“ los und verdingte sich beim Geheimdienst der türkischen Gendarmerie. „Yesil“ werden unaufgeklärte Morde an kurdischen Geschäftsleuten und Oppositionellen zur Last gelegt. Obwohl ihn Zeugen splitternackt im türkischen Dampfbad seiner Heimatstadt Mus gesehen haben wollen, ist es der Polizei noch nicht gelungen, ihn dingfest zu machen.

Wenn er nicht gerade badet, scheint „Yesil“, der mit bürgerlichem Namen Mahmut Yildirim heißt, viel zu telephonieren. Nach den Listen der Überwachungsstelle in Ankara rief er nicht nur die Kanzleien von Staats- und Regierungschef an. Auch die Nummern des Generalsekretariats des allmächtigen Nationalen Sicherheitsrates, des Oberkommandos der Gendarmerie, der Militärakademie oder des Polizei-Geheimdienstes kannte und wählte der flüchtige Ganove.

Unklar ist noch, wer der Technikertruppe um Cevdet Saral den Auftrag zur Operation „Telekulak“ erteilt hat. Einige Zeitungen spekulieren, daß die Beamten in einer Mischung aus Diensteifer und Langeweile damit begonnen hätten, ihre Listen zu führen. Staatsanwalt Nuh Mete Yüksel hat vorsorglich ein Ermittlungsverfahren eingeleitet – vorerst gegen unbekannt. Sicher ist, daß die Beamten mit Freude an die Sache gingen. Für die Telephonkontrolle schoben sie sogar Überstunden. Wolfgang Koydl