Tagblatt 1.6.99

Dem Staat entfremdet

Wer sich für die inoffizielle Meinung zum Fall Öcalan interessiert, kann sie in diesen Tagen auf dem Markt der kurdischen Stadt Diyarbakir leicht erfahren. Ohne angesprochen zu sein, mischt sich ein Mann, der mit einem leeren Handkarren auf Arbeit wartet, in ein Gespräch: «Wir sind Kurden, wir sind alle für Apo!» Auf die Frage, was denn der Unterschied zwischen Kurden und Türken sei, weiss er aber spontan keine Antwort. Hasan Dagtekin, Kreisvorsitzender der kleinen, prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (DBP), kennt den Unterschied: «Er besteht darin, dass die Kurden nicht die gleichen kulturellen Rechte haben wie die Türken. Das Verbot der kurdischen Sprache gab es zum Beispiel schon, als die PKK noch nicht einmal existierte.» Dagtekin fordert den Wiederaufbau von tausenden zerstörter kurdischer Dörfer. Dies senkte die Arbeitslosigkeit eher, als die von Premier Ecevit versprochenen wirtschaftlichen Hilfen, erklärt er. Ramazan Terrki, Vize-Bürgermeister Diyarbakirs, sagt resigniert: «Das wievielte Hilfspaket für den Südosten ist das eigentlich? Diese Pakete waren alle leer. Auch Ecevit hat seine Wähler nicht hier.» In Südostanatolien haben die Wahlberechtigten in den April-Wahlen mehrheitlich die Demokratiepartei des Volkes (Hadep) gewählt, obwohl die Hadep wegen angeblicher Verbindungen zur PKK verboten werden soll. Der Anwalt Sezgin Tanrikulu sagt: «Auch wenn Öcalan nicht hingerichtet wird, das Urteil gegen den PKK-Chef wird die Menschen hier dem türkischen Staat weiter entfremden.»Jan Keetman