"Frieden ist mein Bestreben"

Ein Interview mit den Verteidigern Abdullah Öcalans

Im Folgenden bringen wir eine Übersetzung eines autorisierten Interviews, das die in Istanbul lebende Journalistin Selda Surmeli mit den Rechtsanwälten der Verteidigung Ercan Kanar, Mahmut Sakar und Niyazi Bulgan am 22. Mai 1999 führte. Es wurde zuerst am 23. Mai 1999 in der Zeitung "Özgür Bakis" veröffentlicht.

Am 31. Mai wird der PKK-Führer Abdullah Öcalan zum ersten Mal seit seiner Verbringung auf die Gefängnisinsel Imrali am 15. Februar vor Gericht erscheinen. Die internationale öffentliche Meinung erwartet das Verfahren mit Neugier und Besorgnis. Über den Verlauf des Verfahrens und seiner möglichen Resultate gibt es vielfältige Diskussionen. Bis heute hat Öcalan wiederholt erklärt, daß der Prozeß eine große Chance zum Frieden darstellen könne und hat in seinen mit Hilfe seiner Rechtsanwälte gemachten Erklärungen sogar einen 8-Punkte-Plan für eine friedliche Lösung unterbreitet. Wir haben mit den Rechtsanwälten Ercan Kanar und Mahmut Sakar und der Rechtsanwältin Niyazi Bulgan über die Haftbedingungen Öcalans, über seine Sicht der Dinge, seine Ansichten über die Lösung der kurdischen Frage und seine mögliche Verteidigungsrede gesprochen.

Frage: Ihr erster Besuch bei Abdullah Öcalan war für die öffentliche Meinung - und ich vermute, auch für Sie - ein ziemlich wichtiges Ereignis. Können Sie unseren Lesern erläutern, wie er sich abgespielt hat.

Niyazi Bulgan: Es war Rechtsanwalt Ahmet Zeki Okcuoglu [und Hatice Korkut], der den ersten Besuch machte. Natürlich waren die Bedingungen recht überwältigend. Der Besuch wurde durch zwei mit Skimasken vermummten Offizieren des Generalstabschefs [der türkischen Streitkräfte] und einem Richter überwacht. Als ich zum erstenmal hinfuhr, hatten diese Offiziere ihre Masken bereits abgelegt. Wir konnten erst nach einer vollständigen Durchsuchung hineingelangen. Wir konzentrierten uns auf die Umstände seiner Festnahme, die Ereignisse in Kenya und seine gesundheitliche Verfassung.

Frage: Wie war seine Sicht dessen, was mit ihm während seiner gewaltsamen Überführung in die Türkei geschah? Das kam für ihn ja einigermaßen unerwartet.

Niyazi Bulgan: Es mag sein, daß es für die Öffentlichkeit unerwartet kam, er selbst war jedoch in keiner Weise überrascht. Soweit wir ihn bisher kennengelernt haben, ist er ein Mensch, der alles bis ins kleinste Detail abwägt. Ich bin mir sicher, daß er auch darauf vorbereitet war. Während unseres letzten Besuchs hat er genau dies ausgedrückt. Er sagte: "Sogar als ich in Italien war, sagte ich in einer Fernsehsendung, daß ich verhaftet und an den türkischen Staat ausgeliefert werden könnte". Er war auf die sich anbahnenden Ereignisse vorbereitet.

Mahmut Sakar: Wir sollten eher von einer tiefen Traurigkeit als von einer Überraschung sprechen. Als wir ihn fragten, ob er gefoltert worden sei, sagte er: "Es ist diese ganze Verschwörung, die mich foltert". Es muß eine schmerzhafte Erfahrung sein, mit einer solchen Verschwörung konfrontiert zu sein, nachdem man einen so großen, historischen Dialog mit dem Volk eröffnet hat. Andererseits pflegte er in seinen Reden zu sagen: "Auch wenn ich verliere, haben die Menschen gewonnen."

Frage: Wie schätzt er die Tatsache ein, daß der türkische Staat eine solche Operation durchgeführt hat?

Ercan Kanar: Eigentlich sieht er es vom Grundsatz her als eine Verschwörung des Westens. Im Besonderen sagt er, daß die Rhetorik des Westens zu Frieden und Menschenrechten nicht mit seiner Politik übereinstimmt und betrachtet die Situation, in der er sich jetzt befindet, als eine Konsequenz aus dieser Inkonsequenz des Westens.

Mahmut Sakar: Es gibt eine internationale Verschwörung. Er meint, daß diese Verschwörung nicht besonders zum Vorteil der Türkei beiträgt. Wir haben die Reaktionen erlebt, die hier zum Ausbruch kamen, als man ihn mit verbundenen Augen herbrachte. So ist er der Ansicht, daß seine gewaltsame Überführung hierher, die eigentliche Tatsache, daß er sich hier befindet, den Teil einer Verschwörung gegen die Türkei darstellen. Er sagt, daß manche Mächte beabsichtigen, den Boden für mögliche Konflikte [also Bürgerkrieg] hier vorzubereiten.

Niyazi Bulgan: Er meint, sogar der Umstand, gewaltsam in die Türkei gebracht worden zu sein, müsse in eine Möglichkeit zum Frieden verwandelt werden.

Ercan Kanar: Was er während unserer Besuche unermüdlich betonte, ist, daß dieses Gerichtsverfahren eine historische Chance für eine friedliche Lösung des Konflikts darstellt. Selbstverständlich ist er sehr entschieden der Meinung, daß die eigentliche Macht hinter seiner Verhaftung und Verschleppung die USA sind.

Frage: Die ersten Worte Öcalans, die die Öffentlichkeit erreichten, waren: "Ich glaube, daß ich dem türkischen und dem kurdischen Volk gute Dienste erweisen kann, wenn mir die Chance dazu geboten wird." ...

Nayazi Bulgan: Wissen Sie, diese Worte sind nicht zum ersten Mal im Flugzeug geäußert worden. Er hat dasselbe früher immer wieder gesagt. Vor vielen Jahren hat er wiederholt gesagt, daß er die Mühe für eine demokratische und friedliche Lösung auf sich nehmen wolle, wenn ihm die Gelegenheit dazu geboten würde. Dies sind Worte, die seit dem ersten Waffenstillstand 1993 verstärkt wiederholt wurden.

Mahmut Sakar: In den Medien wurde das als Äußerung kommentiert, die auf die psychische Verfassung eines soeben Gefangenen zurückzuführen sei. Öcalan jedoch drängt darauf, daß seine Forderung nach Frieden vollständig verstanden werden müsse. Er sagt auch, seine gegenwärtigen Forderungen gingen weiter als jene von 1993.

Ercan Kanar: Man sollte seine Worte in einem weiteren Kontext bewerten. Falsch wäre es, nur einen oder zwei Sätze herauszulösen. Was er besonders betont, ist, daß Türken und Kurden die eigenständigen Elemente bildeten, als der Staat gegründet wurde. Sie konnten jedoch nicht die eigenständigen Elemente in der Republik werden. Was er gleichfalls immer wieder aufzeigt, ist die Konzeption eines gemeinsamen Landes. Einer demokratischen Republik, einer freien Zusammengehörigkeit. Er sagt, daß er diese Gedanken in Grundzügen seit 1993 hege und daß er nach 1996 verstärkt versucht habe, sie zum Ausdruck zu bringen.

Frage: Wie werden sich diese Gedanken von Herrn Öcalan in seiner Verteidigungsrede niederschlagen?

Ercan Kanar: Vermutlich werden diese Konzepte in seiner Verteidigungsrede ausführlich entwickelt werden. Ich meine das gemeinsame Land, die demokratische Republik, eine freie Zusammengehörigkeit, Frieden und Geschwisterlichkeit, eine demokratische Lösung und eine Demokratisierung der Republik, eine Restrukturierung des Staates, den Beginn einer Periode des Aufblühens kultureller Rechte.

Mahmut Sakar: Wie ich meine, ist es zum Verständnis der Gedanken Herrn Öcalans über den Frieden nötig, seine folgenden Worte zu übermitteln: "Jene, die groß darin sind, einen Krieg zu führen, sind auch groß darin, einen Kampf für den Frieden zu führen. Jene, die keine Mühe für den Frieden aufbringen, verfallen einer Situation, in der sie ihren Kriegen keinen Sinn verleihen können. In Wirklichkeit ist ein großer Friede nur die Fortsetzung eines großen Krieges." So beschreibt er seine eigene geschichtliche Mission als die einer großen Friedensoffensive.

Frage: In seinen Briefen, die früher in den Medien veröffentlicht wurden, unterstreicht er besonders, daß seine Friedensbemühungen richtig verstanden werden müssen. Welche Art Echo meint er, werden diese Bemühungen in der Öffentlichkeit finden?

Mahmut Sakar: Er nimmt nicht an, daß die kurdische Öffentlichkeit Verständnisprobleme hat. Er unterschätzt aber auch die Position des Staates und der Medien nicht. Er sagt, daß er alles in seiner Macht stehende tun würde, um richtig verstanden zu werden. Während des Waffenstillstandes 1993 pflegte er zu sagen: "Gebt mir die Möglichkeit, legal Politik zu machen, und ich werde kommen und arbeiten." Er meint, seine damaligen Worte seien eine unentwickelte Version des Konzepts eines gemeinsamen Landes gewesen. Er ist recht zuversichtlich, daß die kurdische Öffentlichkeit ihn verstehen wird, und er ist der Überzeugung, daß die türkischen Intellektuellen eine große Verantwortung dafür tragen, daß ihn auch die türkische Öffentlichkeit versteht.

Niyazi Bulgan: Indem er sagt, der Krieg habe keine Bedeutung, wenn man sich nicht mit dem Frieden befaßt, stellt er fest, daß die Qualen, die die Menschen erleiden, ihn sehr erschüttern. Während eines unserer Besuche sagte er zum Beispiel, daß ihn sowohl die Soldaten als auch die Guerillas, die in den Bergen sterben, in tiefe Trauer gestürzt haben, und daß es absolut notwendig gewesen sei, sich um Erleichterung zu bemühen, um noch größere Schmerzen und Trauer zu verhindern. Wie er sagt, hat das kurdische Problem eine genügende Reife erlangt, um zu einer demokratischen, friedlichen Lösung zu kommen.

Ercan Kanar: Natürlich wäre es falsch zu behaupten, er wäre nicht besorgt. Infolge seiner Isolation ist es ihm unmöglich, sich ein Bild von der Außenwelt zu machen. Deshalb interessiert es ihn sehr, wenigstens zu erfahren, wie die Öffentlichkeit auf sein Drängen nach Frieden reagiert. Kann sie ihn richtig wahrnehmen? Wie schätzt sie ihn ein? Das ist seine Sorge.

Frage: Glaubt er, daß die Botschaft, die er an das türkische Volk richten möchte, dort auch ankommt?

Ercan Kanar: Sicher ist er sich der Tatsache bewußt, daß die türkische Öffentlichkeit in der Frage des Friedens sehr träge und passiv ist. Ich meine damit: er weiß, daß von den Nicht-Regierungs-Organisationen oder den Intellektuellen her kein starker Wind weht. Er macht keinerlei übertreibende Kommentare zu dieser Situation.

Niyazi Bulgan: Er glaubt, daß das kurdische Volk bereits von der Notwendigkeit von Frieden und Demokratie überzeugt ist. Doch dann gibt es eine türkische Öffentlichkeit, die jahrelang durch eine Politik des Krieges manipuliert wurde. Er meint, daß es nicht leicht sein wird, diese Schicht zu beeinflussen. Aus diesem Grund ist er entschlossen, äußerst klare und verständliche Botschaften an die Öffentlichkeit zu richten.

Frage: Wie glaubt er, werden sich seine Rufe nach Demokratisierung und Frieden innerhalb des Staatsapparates auswirken?

Niyazi Bulgan: Er kennt den Staat gut. Er weiß um die sichtbare Macht. Und auch um die wirklichen Mächte ... Nie hat er gesagt, er hegte große Hoffnungen. Doch er brachte zum Ausdruck, daß er versuche, weiterhin zu hoffen. Wie er sagte, muß auch die kleinste Chance für Frieden erwogen werden, selbst wenn sie durch ein Nadelöhr geht. Ich meine damit: Er fühlt, daß es notwendig ist, selbst unter den hoffnungslosesten Bedingungen nach Frieden zu drängen. Er erzählte uns, wie der Frieden in Vietnam in Zeiten des intensivsten Bombardements zu sprießen begann. Und sagte: "Laßt uns für den Frieden tun, was getan werden muß. Erst im Rückblick werden wir verstehen können, wieweit es sich realisieren läßt oder nicht."

Mahmut Sakar: Ein anderer Punkt ist, daß er sich engagiert und die Forderung nach Frieden erhebt. Doch in keinem Zusammenhang sagt er: "Es wird Frieden geben." Er möchte, daß die Hoffnung wächst. Darum geht es ihm in all seinem Streben. Und er betont, daß es die Intellektuellen sind, die demokratisch gesinnten und die [kurdischen] Patrioten, die diesen Optimismus nähren und wachsen lassen müssen. Darum geht es in seinem Appell an die Welt. Und darum geht es in dem 8-Punkte-Paket, das er bekanntgegeben hat. Er glaubt, daß es mit einem bißchen demokratischer Bemühung möglich sein sollte, die Hand zum Frieden auszustrecken.

Frage: Wie hat er die Anklageschrift eingeschätzt?

Niyazi Bulgan: Er hat die Anklage nicht allzu wichtig genommen. Wie er sagte, wird seine Verteidigung analytisch sein. Den technischen Einzelheiten der Anklageschrift hat er nicht allzu viel Beachtung geschenkt. Er möchte das Gericht in eine Plattform für eine Lösung verwandeln.

Mahmut Sakar: Er sagt, die Anklageschrift bestehe aus gefrorenen Schnappschüssen. Die sozialen Bedingungen, unter denen die PKK gegründet worden ist, seien nicht gesehen worden.

Frage: Wie schätzt er die Möglichkeit eines Todesurteils ein?

Niyazi Bulgan: Da ihm die traditionelle Logik des Staates bekannt ist, nahm er es als sicher an, daß eine Verurteilung gemäß Artikel 125 erfolgen und die Todesstrafe gefordert würde. Dies stellt für ihn keine Überraschung dar. Doch sagte er etwas während unseres vorletzten Besuches: "Ich erwarte nichts für mich selbst. Mein einziger Wunsch ist, daß das Problem zu einer friedlichen Lösung gebracht und daß der Prozeß als Gelegenheit zu dieser Lösung ergriffen wird."

Mahmut Sakar: Er hat auch so etwas wie eine Beziehung zwischen seinem individuellen Leben und dem Frieden hergestellt. Immer und immer wieder während unserer Besuche erklärte er: "Sollte ich am Leben bleiben, so werde ich für den Frieden leben". Dies ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Und es ist auch die Logik hinter seiner Aussage, daß er seine Verteidigung auf eine demokratische Lösung konzentrieren würde. Deshalb macht er klar, daß er sehr wohl in der Lage sei, eine andere Verteidigungsrede zu halten, daß der gegenwärtige Prozeß jedoch der einer demokratischen Lösung sein müsse. Dafür möchte er das Fundament legen. Während unseres letzten Besuches zitierte er einen Dichter: "Gebt mir meine Freiheit oder gebt mir den Tod." Außerhalb davon gibt es keine Logik. "Wenn es der Tod sein sollte, so ist es eben der Tod; sollte es aber Leben sein, dann in Frieden und Freiheit", sagt er.

Frage: Fällt es Ihnen leicht, mit Öcalan in einen Dialog zu treten?

Ercan Kanar: Ich habe Ihn als Person erfahren, die sehr leicht in einen warmherzigen Dialog findet. Doch gibt es ein Hindernis für jedes leichte In-Dialog-Treten: die Einzelhaft da draußen. Für uns ist es unmöglich, Auge in Auge zu sprechen. Stets pflegte ein Offizier zwischen uns zu sein. Jetzt hören sie uns hinter der Tür zu. Aber noch immer hören sie mit, und wahrscheinlich gibt es auch elektronische Abhörgeräte. Auch kann er einige Dinge, die er uns sagen möchte, nicht klar genug formulieren. Auch wir lassen einiges zu seiner Festnahme im Ungefähren, das wir eigentlich viel eindeutiger ausdrücken müßten. Dann haben wir einige Schwierigkeiten bezüglich dessen, was rechtlich getan werden muß. Dies, wie ich vermute, weil er sich mit den Vorschriften nicht auskennt.

Mahmut Sakar: Selbstverständlich machten wir uns eine Menge Gedanken darüber, wie wir in Dialog treten könnten, als wir zum erstenmal dorthin fuhren. Doch während unseres allerersten Besuches mußten wir einsehen, daß es ein solches Problem nicht gab. Nie habe ich es als so leicht empfunden, mit jemanden ins Gespräch zu kommen. Vor allem hat er eine Haltung, die es der Person vor ihm leicht macht, ihn ins Gespräch zu ziehen. Ich habe einen Menschen erlebt, der sich sehr auf die Unterhaltung konzentrierte. Ich könnte sagen, daß er ein ziemlich sympathischer und höflicher Mensch ist, der jemanden in seinen Bann ziehen kann.

Frage: Diskutieren Sie während Ihrer Besuche auch irgendwelche anderen Themen als den Prozeß und die kurdische Frage?

Niyazi Bulgan: Er spricht über alles - Politik, Kunst, Literatur. Er möchte unsere Meinung dazu kennenlernen. Zum Beispiel erzählte er uns gestern, er hätte den Plan für eine "Akademie des Friedens und der Künste" an der historischen Stätte in Urfa-Balikllgöl und das etwas Ähnliches an der alten Stadtmauer in Diyarbakir eingerichtet werden könnte. Er sagte, daß die Intellektuellen darüber etwas erarbeiten müßten.

Mahmut Sakar: Manchmal konzentriert er sich auf die Kunst, denn er hat ein besonderes Kunstinteresse. Er sagte sogar, daß der ganze Prozeß in Gedichten, Liedern und Erzählungen ausgedrückt werden müsse. Er sagte auch, daß er sein Leben gern der Literatur weihen würde, wenn er Gelegenheit dazu bekäme. Er glaubt, daß all die Schmerzen, das Glück, die Tragödie, die durchlebt wird, einen künstlerischen Ausdruck finden müsse.

Ercan Kanar: Auch wenn die Zeit begrenzt ist, werden während unserer Besuche viele Themen berührt. Soweit ich mich erinnere, war das erste Mal für mich der 26. März. Bei dieser Gelegenheit war der Jugoslawien-Kosovo-Konflikt das Hauptthema. Er widmete ihm viel Aufmerksamkeit, stellte sehr ins Einzelne gehende Fragen. Dann war er zum Beispiel sehr interessiert an den Wahlen in Israel. Und am Wahlabend in der Türkei fragte er uns exzessiv nach unserer Meinung über die politische Entwicklung in der Türkei.

Mahmut Sakar: Er ist ein Politiker, der für viele Jahre in einem Kriegsgebiet gelebt hat. Ich habe eine Persönlichkeit erwartet, die durch der Krieg irgendwie müde geworden ist, sehr anders also. Und das hat mich überrascht. Ich sah einen Menschen von sehr tiefem Humanismus. Ich war einigermaßen ratlos, als ich bemerkte, daß er es trotz der langen im Krieg verbrachten Zeit fertiggebracht hatte, seine menschliche Seite so zu bewahren. Er sagte, daß Liebe und Gerechtigkeit aufs Neue begründet werden müßten und daß sich jeder Einzelne auf diese Aufgabe konzentrieren müsse. Er sagte sogar, "eine Beziehung, in der die Menschen sich nicht einmal im Kampf gegenseitig verletzen, ist, ethisch gesprochen, in hohem Grade notwendig. Sicher ist eine Beziehung dieser Art möglich, wenn sich beide Seiten in Gerechtigkeit und gegenseitiger Rechtswahrung einander annähern." Er meint, daß sogar die gegenseitige Annäherung der Kriegsparteien dieserart sein sollte.

Niyazi Bulgan: Er ist sehr besorgt über die Zukunft der Menschheit insgesamt. Er sagte, während unseres letzten Besuches, daß regionale Konflikte beigelegt werden und daß die Schwelle des 21. Jahrhunderts mit einem Sieg der Demokratie überschritten werden könnte; daß auch die Türkei von diesen Entwicklungen profitieren würde und daß es keine Möglichkeit gebe, sich aus ihnen herauszuhalten.

Frage: Wir wissen, daß Öcalan einige Briefe erhalten und einige beantwortet hat. Wissen sie, wieviele Briefe und von wem er sie erhalten hat und welche beantwortet wurden?

Niyazi Bulgan: Er hat einen Brief von Teslim Tore bekommen, einen weiteren von drei inhaftierten Frauen und einen von Sabri Ok. Aus dem, was die Absenderinnen uns sagten, entnehmen wir, daß ihm nicht alle Briefe ausgehändigt wurden. Wir wissen weiter, daß ihm mehr als 20 Kinder geschrieben haben, deren Briefe er jedoch nicht erhielt. Nur wenige Briefe werden ihm ausgehändigt. Wie wir verstehen, beantwortet er alle Briefe, die er erhält. Und natürlich schreibt er auch an einige Menschen, von denen er keinerlei Post erhielt. Wir wissen jedoch nicht, ob sie diese Briefe erhalten oder nicht.

Frage: Öcalan hat seine Verwandten kürzlich nach vielen Jahren wiedergesehen. Haben Sie diese Begegnungen beobachtet und welches waren die Gefühle der Verwandten?

Mahmut Sakar: Nein, wir waren bei seinen Verwandtenbesuchen nicht zugegen. Wir fahren zwar zusammen dorthin [auf die Insel Imrali], sie sehen ihn jedoch getrennt. Wie sie uns erzählten, fragte er sie nach seiner Heimatgegend, seinem Dorf. In einer der Unterhaltungen wollte er, daß sie eine Art "Medrese" [islamische theologische Schule] in seinem Dorf bauen. Er schlug ihnen vor, etwas wie ein Volkshaus oder ein Kulturhaus zu errichten. Dies wurde entstellt in den Medien berichtet, als wenn er nur ein normales Haus gewollt hätte. Was ihm tatsächlich vorschwebte, war ein Ort, in dem Erleuchtung und erzieherische Aktivitäten stattfinden, und den Menschen ein Studium und kulturelle Arbeit zu ermöglichen. Und tatsächlich wollte er das nicht nur für sein eigenes, sondern für jedes Dorf.

Frage: Wie verbringt er seine Tage?

Mahmut Sakar: Er hat das Bestreben zu vermeiden, daß Themen, die seine Person oder das tägliche Leben betreffen, zu sehr in den Vordergrund treten. Wir können nur dann Informationen über ihn selbst, seine Gesundheit, seine Haftbedingungen erhalten, wenn wir geradezu in ihn dringen. Deshalb hat er uns nie gesagt, wie er den Tag verbringt.

Ercan Kanar: Das heißt, daß er jedesmal, wenn wir ihn sehen, offenkundig über die Beschwerden spricht, die ihm die Einzelhaft bereitet. Einmal sagte er: "Niemand kann hier länger als sechs Monate leben."

Mahmut Sakar: Ein anderes Mal nannte er seinen Haftort ein Leichenschauhaus.

Niyazi Bulgan: Sein Haftort als solcher ist eigentlich kein so übler Ort. Aber er ist ungeeignet dafür, die ungünstigen Auswirkungen der Isolation zu begrenzen. Jede Minute seines Privatlebens wird überwacht. Sogar während er schläft.

Mahmut Sakar: Aber trotz dieser harten Bedingungen kann er äußerst glücklich und begeistert sein. Nie sagt er "unmöglich". Wie er sagt, war es trotz allem angebracht, sich den Optimismus und die Hoffnung zu erhalten.

Niyazi Bulgan: Er möchte nicht einmal auf unsere Fragen nach seiner Gesundheit antworten und rät uns, wir sollten unsere Aufmerksamkeit besser auf Frieden und Demokratie richten.

Frage: Kürzlich wurde berichtet, er bekäme Zeitungen und Bücher.

Ercan Kanar: Hürriyet, Sabah oder eine andere Zeitung, und die 2 oder 3 Tage alt. Doch werden alle Berichte über ihn sowie die wichtigsten Kommentare herausgeschnitten. Wahrscheinlich erzählen ihm die Offiziere dort eine Menge entsprechend Ihrer eigenen staatsfreundlichen Interpretation.

Frage: Hat er bis jetzt irgendwelche Bücher bekommen?

Ercan Kanar: Ja, einige Bücher. Doch keines der Bücher, die für seine Verteidigung erforderlich wären.

Niyazi Bulgan: Und die er erhält, wurden von den Offizieren ausgesucht.

Frage: Gibt es etwas Besonderes, das ihm fehlt?

Mahmut Sakar: Ihm fehlen die Natur und das Zusammensein mit seinem Volk. Das sagt er sehr oft.

Ercan Kanar: Die Haftbedingungen sind sehr hart. Stellen sie sich nur vor, daß er keinen Kontakt zu irgendeinem Menschen hat. Man erlaubt ihm nicht einmal, uns die Hand zu geben. Unter solchen Bedingungen hat ein Mensch vielfältige Nöte. Bei unserem ersten Treffen schufen wir einfach vollendete Tatsachen und schüttelten ihm die Hand, doch die Offiziere schritten sofort ein, und danach erlaubten sie uns nie wieder, ihm die Hand zu geben.

Frage: Haben Sie darüber gesprochen, unter solchen Bedingungen die Verteidigung niederzulegen?

Ercan Kanar: Das diskutieren wir ziemlich häufig. Die einmütige Meinung der Rechtsanwälte ist es aber, die Verteidigung niederzulegen, bis sich die Bedingungen geändert haben. Er selbst erklärt, er könne seine Verteidigung unter allen Bedingungen halten, er könne die Vorschläge, die er hat, unter allen Bedingungen erheben. Obwohl wir das ebenfalls glauben, möchten wir grundsätzlich unterstreichen, daß unserem Mandanten die gesetzlichen Rechte jedes Menschen vorenthalten werden. Sogar aus dem Blickwinkel der Verteidigung, die eine größere Zuhörerschaft erreicht, ist es sehr wichtig, daß diese Rechte Beachtung finden.

Quelle: Internationale Initiative "Freiheit für Abdullah Öcalan - Frieden in Kurdistan", Bonn, 26.5.1999