junge Welt 21.05.1999

Chemiewaffen gegen Kurden

NATO-Land Türkei setzt völkerrechtlich geächtete Waffen gegen Zivilisten ein In einer Erklärung der Nationalen Befreiungsarmee Kurdistans, die das Kurdistan Informations-Zentrum (KIZ) diese Woche verbreitete, wird der türkischen Armee der Einsatz von Raketen mit chemischen Sprengköpfen im Kampf gegen die kurdische Guerilla vorgeworfen. Danach habe die türkische Armee am 11. Mai in der Nähe des Dorfes Ballikaya bei Sirnak und Silopi - im türkisch-irakischen Grenzgebiet - eine Guerillagruppe eingeschlossen und diese mit chemisch bestückten Raketen beschossen. Wörtlich heißt es in der vom KIZ verbreiteten Erklärung: »Sowohl die sterblichen Überreste der Guerilleros als auch Teile der angewendeten chemischen Sprengköpfe befinden sich in den Händen unserer Armee. Diese stehen für Nachforschungen von internationalen Institutionen zur Verfügung. Wir laden die zuständigen internationalen Kontrollgremien, die die internationalen Abkommen wie die auch von der Türkei unterzeichnete Genfer Konvention kontrollieren (...) dazu ein, die das Kriegsrecht verletzenden Methoden des türkischen Staates vor Ort zu analysieren und zu verurteilen.« Der Vorwurf, daß die türkische Armee nicht nur für Vertreibungen der kurdischen Zivilbevölkerung und Bombardierungen von Dörfern und Städten verantwortlich ist, was in den letzten Jahren über drei Millionen Flüchtlinge und über 3 000 zerstörte kurdische Dörfer zur Folge hatte, sondern im kurdischen Kriegsgebiet auch zum Einsatz international geächteter Waffen greift, ist nicht neu. So berichtete z. B. der Vorsitzende der im kurdischen Autonomiegebiet in Nordirak ansässigen PUK (Patriotischen Union Kurdistans), Talabani, bereits in einem am 21. Oktober 1997 an UN-Generalsekretär Kofi Annan gerichteten Brief, daß die türkisch e Armee bei ihrem völkerrechstwidrigen Vordringen auf nordirakisches Territorium auch international geächtete Napalm-Bomben einsetze. In dem Schreiben an Kofi Annan beklagt Talabani, daß die türkische Regierung nicht nur »einen Vernichtungskrieg gegen die Bevölkerung Türkisch-Kurdistans« führe, sondern bei ihrem Vorgehen auch die Bevölkerung Irakisch-Kurdistans bombardiere.
Die Türkei beantwortet die Vorwürfe von Talabani auf eindeutige Weise: Am 29. Oktober 1997, so die PUK in einer nach dem Brief an Annan dann auch an die Öffentlichkeit gerichteten Pressemitteilung, bombardierten türkische Flugzeuge PUK- Stellungen in der Region Shakhi-Soor. Dabei seien erneut Napalm- Bomben eingesetzt worden. Für Ernüchterung auf kurdischer Seite sorgten die fehlenden Konsequenzen der vielzitierten »internationalen Gemeinschaft«: Reaktionen, Nachfragen, Wünsche nach Aufklärung dieser schweren Vorwürfe an die Adresse der Türkei von den verbündeten NATO-Ländern, hier vom damaligen Außenminister Kinkel? Fehlanzeige! Vor diesem Hintergrund dürfte nun der Wunsch der Nationalen Befreiungsarmee Kurdistans, die Vorfälle durch internationale Beobachter vor Ort zu überprüfen, vermutlich auch nur ein Wunsch bleiben. Bei ihrem Vorgehen hat die türkische Armee seit Jahren die volle Rückendeckung der NATO-Verbündeten. Daß selbst für Journalisten große Teile der Kriegsregion »verbotenes Gebiet« sind und die Vertreibungen der Zivilbevölkerung unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden, gehört ebenso zu dieser besonderen »Normalität« wie immer wieder aufkommende Berichte über den Einsatz international geächteter Waffen und völkerrechtswidrige Einmärsche im Nord-Iark. Schließlich gehört die Türkei als NATO- Mitglied zur »westlichen Wertegemeinschaft«.
Thomas Klein