Neue Zürcher Zeitung, 21.05.1999

Ankara am Nato-Einsatz in Jugoslawien beteiligt
Erneuter Vorstoss türkischer Truppen gegen kurdische Rebellen im Nordirak

Die Türkei hat der Nato drei Luftstützpunkte für Angriffe gegen Jugoslawien zur Verfügung gestellt und grünes Licht für die Beteiligung türkischer Kampfflugzeuge an dem Nato- Einsatz erteilt. Wegen seiner aktiven Beteiligung auf dem Balkan hofft Ankara, beim westlichen Verteidigungsbündnis auf Verständnis für seine Militäroperationen gegen die Kurden zu stossen. Türkische Truppen sind am Wochenende erneut in den Nordirak vorgedrungen.

it. Istanbul, 20. Mai
«Wir sind das treueste Mitglied der Nato.» Mit diesen Worten hat vor kurzem die liberale türkische Tageszeitung «Milliyet» die Bereitschaft Ankaras, den Forderungen des Bündnisses im Krieg gegen Jugoslawien ohne Zögern und fast ohne Widerspruch nachzukommen, umschrieben. Tatsächlich hat die Türkei der Nato Mitte April drei Stützpunkte für Luftangriffe gegen Jugoslawien zur Verfügung gestellt. Im Stützpunkt Corlu westlich von Istanbul werden voraussichtlich die Fracht- und Tankflugzeuge stationiert, während die Einsätze gegen Jugoslawien hauptsächlich von den unweit von Izmir gelegenen Basen Bandirma und Balikesir aus geflogen werden. Laut Angaben der Presse sollen bis Ende Mai 72 Kampfflugzeuge von Typ F-15 und F-16 eintreffen.

Den Verpflichtungen nachkommen
Die Türkei hält ferner 1000 Soldaten bereit, um sie für Friedensmissionen auf dem Balkan einzusetzen. Zudem nehmen die 11 türkischen Kampfflugzeuge, die seit Kriegsbeginn in der italienischen Basis Aviano stationiert sind und bisher lediglich für Patrouillenflüge eingesetzt wurden, nun auch an Bombardierungen teil. «Auf Jugoslawien regnet es Bomben türkischer Flugzeuge» schrieb die linksliberale Tageszeitung «Radikal», während die armeefreundliche Tageszeitung «Hürriyet» folgerte: «Jetzt sind auch wir im Krieg.» Zurückhaltend kommentierte der Regierungschef Ecevit die Lage und meinte, die Türkei komme lediglich ihren Verpflichtungen in der Nato nach.
In der türkischen Presse wird über die Hintergründe dieser erstaunlichen Zuvorkommenheit Ankaras gerätselt, zumal sie in einer Zeit erfolgt, da sich bei den europäischen Alliierten in bezug auf den Einsatz in Jugoslawien allmählich Meinungsverschiedenheiten abzeichnen. Die Türkei könne der Tragödie in Kosovo nicht tatenlos zuschauen, weil sie als ehemalige Hegemonialmacht im Balkan dem Volk der Kosovaren sehr nahe stehe, schrieb ein Kommentator von «Milliyet». Wenn die Türkei auch künftig auf dem Balkan eine Rolle spielen wolle, müsse sie jetzt ihre Verantwortung wahrnehmen. Es sei eine Lüge, dass die Türken sich vom Schicksal der Kosovo-Albaner betroffen fühlten, erwiderte ein Kommentator im Massenblatt «Sabah». Weder interessiere sich die Bevölkerung für das Kriegsgeschehen, noch zeige sich die Regierung vom Schicksal der Kosovo-Flüchtlinge sonderlich betroffen. Ankara habe zwar erklärt, 20 000 Flüchtlinge aufnehmen zu wollen, fordere aber von den USA, die Kosten für deren Unterkunft zu tragen. Ein Kommentator von «Hürriyet» meinte, Ankara habe die Achse Washington-London gestärkt und bilde ein Gegengewicht zur amerikakritischen Haltung Bonns, Roms und Athens.
Die Kommentatoren sind sich darin einig, dass die einflussreiche türkische Armeeführung um keinen Preis das Verhältnis zu den USA stören will. Wegen der Spannungen zwischen Ankara und der EU sind gute Kontakte zu Washington erst recht von Bedeutung. Die Generäle hoffen zudem, dass nach ihrem Treuebekenntnis in der Kosovo-Frage die Nato-Alliierten für Ankaras Kurdenpolitik mehr Verständnis zeigen werden. Der türkische Verteidigungsminister Hikmet Sami äusserte denn auch offen den Wunsch, die europäischen Alliierten mögen aufhören, eine politische Lösung der Kurdenfrage als Bedingung für einen Beitritt der Türkei zur EU zu machen. Weiter verbat er sich den in Europa vielerorts gezogenen Vergleich zwischen dem Kurdenproblem in der Türkei und der Lage der Kosovo-Albaner.

Routineoperation gegen die PKK
Am Wochenende sind, wie bereits kurz gemeldet, rund 15 000 türkische Soldaten mit Panzerfahrzeugen und Helikoptern bis zu 20 Kilometer tief auf irakisches Territorium vorgestossen. Es handle sich um eine Routineoperation gegen Verstecke der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Nordirak, verlautete in Ankara. Während der letzten Jahre sind im Gebirge des Grenzdreiecks zwischen Iran, dem Irak und der Türkei jeweils in den Frühlingsmonaten regelmässig Gefechte zwischen der PKK und der türkischen Armee ausgebrochen. Die Regierung in Bagdad reagierte jedesmal äusserst empfindlich und sprach auch diesmal von einer Aggression, die gegen die Charta der Vereinten Nationen verstosse. Der Irak forderte von Ankara einen sofortigen Truppenabzug von seinem Gebiet. Russland hat sich am Donnerstag hinter Bagdad gestellt und den Westen bezichtigt, in der Kurdenfrage eine Politik der selektiven Wahrnehmung und eines doppelten Standards zu verfolgen. Die Türkei verletze mit ihren Interventionen im Irak internationales Recht, hiess es in einer Erklärung des russischen Aussenministeriums.

Todesurteil gegen Öcalans ehemaligen Stellvertreter
Diyarbakir, 20. Mai. (Reuters/afp) Der ehemalige Stellvertreter des kurdischen PKK-Chefs Abdullah Öcalan und sein Bruder, Semdin und Arif Sakik, sind am Donnerstag von einem türkischen Gericht wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden. Semdin Sakik wurde die Verantwortung für den Tod von 125 Mitgliedern der Sicherheitskräfte und 123 Zivilisten angelastet. Der Angeklagte hatte ein Geständnis abgelegt und Reue gezeigt. Beide Urteile basierten auf Artikel 125 des türkischen Strafgesetzbuches, der sich mit Landesverrat und Delikten zur Spaltung des Landes befasst. Der Richterspruch erfolgte elf Tage vor der geplanten Eröffnung des Prozesses gegen Öcalan, der Mitte Februar aus Nairobi verschleppt worden war und dem das gleiche Delikt angelastet wird. Semdin Sakik hatte vor Gericht erklärt, er werde im Prozess gegen Öcalan aussagen.

Akbulut neuer Parlamentspräsident
Ankara, 20. Mai. (ap) die türkische Nationalversammlung hat am Donnerstag gegen die Stimmen der rechtsextremen Partei der Nationalen Bewegung (MHP) den konservativen Politiker und früheren Ministerpräsidenten Yildirim Akbulut zu ihrem neuen Parlamentspräsidenten gewählt. Für das Mitglied der Mutterlandspartei (Anap) stimmten 332 Abgeordnete. Der MHP- Kandidat Sadi Somuncuoglu erhielt dagegen nur 191 Stimmen. Das bedeutet, dass die meisten Abgeordneten der Demokratischen Linkspartei (DSP) von Ministerpräsident Ecevit gegen Somuncuoglu votierten, was dessen Bemühungen um die Bildung einer neuen Regierung weiter belasten dürfte. Bei der Wahl vom 18. April war die DSP mit 136 der 550 Sitze stärkste parlamentarische Kraft geworden, gefolgt von der MHP mit 129 Mandaten.