Berliner Zeitung 14.5.99

Eine bewaffnete Formation

Politik Zu „Sorge um eine Abkehr der Türkei von Europa“ von Joachim Widmann (23. April):
Der Schlußsatz in dem Artikel „Sorge um eine Abkehr der Türkei von Europa“ ist Anlaß für mich, diesen Brief zu schreiben. Der Satz lautet: „Die Bereitschaft vor allem der USA, den Nato-Partner Türkei im Sinne der Menschenrechte zu bedrängen, stehe weiterhin freilich in Frage.“
Das klingt für mich sehr merkwürdig, ist doch die Begründung für den Krieg der Nato gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, daß dort die Menschenrechte gröblichst verletzt werden. Diese gravierenden Verletzungen rechtfertigen deshalb auch die Verletzung des Völkerrechts, der Uno-Satzung und auch die Ignorierung des eigenen Nato-Statuts. Und auch nationale Verfassungen, wie zum Beispiel das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, können dann ebenso als nicht so bindend betrachtet werden. So höre ich es täglich, so lese ich es täglich.
Also, wenn die Begründung für den Krieg korrekt ist und sie somit die Grundlage für die Bewertung auch anderer souveräner Staaten darstellen wird, dann muß die Nato aber ganz flink zum Beispiel die Türkei bombardieren. Mit der Demokratie nimmt es nach EU-Einschätzung die Türkei nicht so genau, zum Beispeil steht ein Militärischer Sicherheitsrat über den parlamentarischen Institutionen als eine Art Politbüro. Das entspricht nicht ganz den westeuropäischen Normen!
Und wollen die Kurden in diesem Land nicht auch ethnische Selbstbestimmung, ihre Kultur ohne Diskrimierung leben, ihre Sprache ungehindert sprechen, und wollen sie nicht auch wie die Albaner im Kosovo ein autonomes Siedlungsgebiet ohne Vertreibung? Für diese Ziele, die offenbar durch politische Verhandlungen mit der türkischen Regierung nicht erreichbar waren, haben sich vermutlich die Kurden eine bewaffnete Formation geschaffen. Sicher, die offizielle Sprachregelung lautet noch „terroristische Vereinigung“, wenn von der PKK die Rede ist. Das kann dann jedoch – wie bei der UCK geschehen – in „Befreiungsarmee“ umgewandelt werden.
Jugoslawien wird vorgeworfen, daß es Uno-Beschlüsse verletzt habe. Trifft das nicht auch auf die Türkei zu? Die Annexion eines Teils Zyperns durch eine türkische Invasion im Jahre 1974 ist von der Uno verurteilt worden, und die Türkei ist aufgefordert, sich von dort wieder zurückzuziehen und die Einheit des Inselstaates wiederherzustellen.
Kommt es nicht auch hin und wieder vor, daß die Türkei die Grenzen eines weiteren souveränen Staates ignoriert und mit seinen Truppen die irakische Grenze überschreitet? Begründet wird es mit der Verfolgung von Terroristen.
Jörg Kuhle, Berlin-Hakenfelde