Süddeutsche Zeitung 12.5.99

Todesstrafe wahrscheinlich
Anwalt von PKK-Chef Öcalan im Abgeordnetenhaus

Selim Okcuoglu, einer der Anwälte von PKK–Chef Abdullah Öcalan, hat der Bundesregierung vorgeworfen, sie zeige bei Menschenrechtsverletzungen in der Türkei keinerlei Reaktion. Für eine dringend nötige Korrektur der deutschen Außenpolitik – auch im Hinblick auf das „Unrechtsverhalten der Türkei“ vor Beginn des Öcalan-Prozesses am 31. Mai –gebe es bisher keine Anzeichen, sagte der Anwalt, der auf Einladung der Fraktionen der PDS und Bündnis 90/Die Grünen nach Berlin gekommen war. Okcuoglu forderte von der internationalen Staatengemeinschaft, verstärkt Druck auf die Türkei auszuüben, um einen fairen Prozeß zu ermöglichen und die Demokratisierung des Landes voranzutreiben. Gleichwohl zeigte sich der Anwalt überzeugt, daß das Sicherheitsgericht „kaum“ zu einem anderen Urteil als der beantragten Todesstrafe kommen werde.
Der Staatsanwalt wirft Öcalan, der Mitte Februar in Kenia festgenommen worden war und seitdem auf der Insel Imrali im Gefängnis sitzt, vor, kurdische Gebiete aus der türkischen Verwaltung herauslösen zu wollen. Aufgrund dieses politischen Vergehens wurde die Todesstrafe gefordert.  Okcuoglu, der Öcalan am 16. März zuletzt gesehen hat und sich seitdem im Ausland aufhält, sprach von zahlreichen und schweren Verletzungen fundamentaler Rechtsgrundsätze und des Rechts der Verteidigung durch türkische Behörden. So sei Öcalan unter „schweren physischen und psychischen Folterbedingungen verhört“ worden und befinde sich seither in „Isolationshaft“, wo ihm die Möglichkeit, Zeitung oder Bücher zu lesen und Radio zu hören, verwehrt werde.
Auch sei es unmöglich, eine Verteidigungsstrategie aufzubauen. Treffen der 21 Anwälte Öcalans mit ihrem Mandanten seien nur unter strenger Aufsicht möglich. Die Anwälte würden stets genau kontrolliert, es sei ihnen verboten, irgendwelche Gegenstände – Stifte, Papier, Gesetzestexte –mitzubringen. So wollen die Anwälte zwar ihr Mandat nicht niederlegen, aber auch an der „Inszenierung eines Theaterspektakels“ nicht teilnehmen. Die Anwälte würden von offizieller Seite und von den türkischen Massenmedien zu „Schuldigen“ gestempelt, sagte Okcuoglu. Mit Brief- und Telephonterror werde versucht, psychischen Druck auszuüben. Am 30. April seien sechs der Anwälte in Ankara von einer aufgebrachten Menge verprügelt worden.
Das Urteil Todesstrafe stehe bereits fest, vermutet der Anwalt. Zwar sei seit 1984 vom Parlament die Vollstreckung dieser Strafe nicht mehr gebilligt worden, doch stimme die Anwälte das Ergebnis der Parlamentswahlen vom 18. April mit einem Machtzuwachs rechter und links-nationalistischer Parteien „pessimistisch“. Die Billigung eines Todesurteils wäre jedoch nach Einschätzung von Okcuoglu eine „Dummheit“. Bereits jetzt herrsche große Unruhe unter den Kurden, die sich von der internationalen Staatengemeinschaft alleingelassen fühlten. Der Tod von Öcalan würde unweigerlich zu einer weiteren „Forcierung der Gewalt“ führen.
Robert Probst