Die Welt 11.5.99

„Politisch und moralisch hat die Nato verloren“

Der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow dringt auf politische Kosovo-Lösung ­ Kritik an Milosevic ­ Ein WELT-Gespräch
Der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow betrachtet die Bombenangriffe der Nato auf Jugoslawien als falsches Mittel, mit dem ein durchaus richtiges Ziel verfolgt wird. Er fordert ein Ende der Luftangriffe und die Rückkehr zu diplomatischen Lösungsversuchen unter Führung der Vereinten Nationen.
Gleichzeitig setzt er sich für die Erhaltung der partnerschaftlichen Beziehungen Rußlands zur Nato und den USA ein. Mit Michail Gorbatschow sprach Manfred Quiring.

DIE WELT: Die Nato bombardiert Jugoslawien, um, wie sie sagt, eine menschliche Tragödie im Kosovo zu verhindern. In Rußland wird das eine Aggression genannt. Wie sehen Sie das?
Michail Gorbatschow: Wir sprechen davon, daß das höchste Gut die Freiheit und die Menschenrechte sind. Wir berufen uns dabei auf internationale Dokumente, vor allem auf die Menschenrechts-Charta. Nach dem Ende des Kalten Krieges wollen wir die Menschenrechte schützen, das Leben und die Freiheit des Menschen. Doch erlauben Sie mir zu fragen, wie kann man ein richtiges Ziel, ich wiederhole: ein richtiges Ziel, erreichen wollen, indem man das Völkerrecht verletzt? Wo ist das Mandat? Wie Ihr Landsmann, mein alter Bekannter und Freund Oskar Lafontaine, am 1. Mai sagte ­ man hat sich das Mandat angeeignet, sich selbst „mandatiert“. Das heißt, und so sehe ich das, man hat sich das Recht auf Verurteilung und Vollstreckung zugleich angeeignet. Und das geht über den Rahmen dieses Konfliktes weit hinaus.
DIE WELT: Doch zunächst geht es doch um die Menschen im Kosovo?
Gorbatschow: Im Kosovo, in Jugoslawien haben wir es mit einem großen Drama zu tun, einem menschlichen Drama. Wir können nicht damit einverstanden sein, daß man Menschen in eine Situation bringt, in der sie gezwungen sind, alles stehen und liegen zu lassen, um das eigene und das Leben ihrer Kinder zu retten. Hier hat Milosevic eine gewaltige Verantwortung. Denn 1989 hat er dem Volk die Autonomie genommen. Und das gebar die Ungewißheit und Instabilität. Auch wenn dies in einer Situation geschah, in der Jugoslawien zerfiel, in der die westlichen Staaten übereilt Slowenien und Kroatien anerkannten und damit den Prozeß beschleunigten, rechtfertigte dies nicht seine Entscheidung. Und in all den Jahren danach fand er keine Mittel, die Situation mit politischen Mitteln zu bereinigen. In den letzten Jahren ist ein weiteres Element hinzugekommen. Die Befreiungsarmee des Kosovo erschien auf dem Plan. Sie begann sich zu bewaffnen. Woher hat sie die Waffen? Aus Albanien, vom Westen, aber nicht aus Rußland. Doch damit geriet der Konflikt in eine neue Phase der Konfrontation. Die Antwort darauf waren zunächst polizeiliche Maßnahmen, später wurde Militär eingesetzt. Ich möchte nicht zynisch werden, aber damals zählten die Opfer nach Dutzenden.
War das der Moment, in dem wir alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatten und die Bombenangriffe begonnen werden mußten? Ich sage nein. Während damals Hunderte oder sogar Tausende Menschen flohen, sind es inzwischen Hunderttausende geworden. Albaner, aber auch Serben. Die Bombenangriffe haben die Eskalation eröffnet.
DIE WELT: Meinen Sie nicht, daß die Geduld gegenüber einem Mann, den europäische Politiker lieber als Kriegsverbrecher anklagen würden, ihre Grenzen hat?
Gorbatschow: Wenn man Milosevic die Rechnung präsentieren will, dann muß ebenfalls geklärt werden, wem man sie in der Nato präsentiert. Denn das Recht ist gebrochen worden, es findet eine Aggression statt. Milosevic ist in ordentlichen Wahlen zum Präsidenten bestimmt worden. Der oppositionelle Vuk Draskovic ist sogar in die Regierung eingetreten. Glauben Sie, daß der Sprung aus einem totalitären Regime in die Demokratie so leicht ist? Ich glaube, das deutsche Beispiel zeigt das sehr deutlich. Im übrigen muß ich sagen, daß der Westen sehr zynisch handelt. Nehmen wir zum Beispiel die Türkei: Dort existiert ein scharfer innerer nationaler Konflikt, militärische Kräfte werden eingesetzt, Hunderttausende Kurden haben ihre Heimat verlassen. Darauf reagieren weder Nato noch Sicherheitsrat. Ein anderes Beispiel ­ Kolumbien. Dort sterben jedes Jahr mehrere tausend Menschen. Die Zahl der Flüchtlinge übersteigt eine Million. Aber die Machthaber des Landes unterhalten freundschaftliche Beziehungen zu Washington. Oder schauen Sie nach Nordirland. Dort versucht man nun schon seit 25 Jahren, zu einer gewaltlosen Lösung zu kommen. Und das ist richtig so, obwohl die Zahl der Opfer schon die 3000 überschritten hat. Die Geduld reicht seit 25 Jahren, warum in anderen Fällen nicht?
DIE WELT: Wie würden Sie Ihre Frage selbst beantworten?
Gorbatschow: Ich glaube, es hat ein Wechsel in der Strategie stattgefunden. Vor zehn Jahren hatte die Perestroika den Weg für den politischen Fortschritt in der Sowjetunion geöffnet. Das Vertrauen zwischen Ost und West nach dem Ende des Kalten Krieges wuchs besonders im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands. Damals stand die Aufgabe, die Vereinigung Deutschlands mit dem europäischen Prozeß zu synchronisieren. Der Vertrag über die Reduzierung der konventionellen Waffen in Europa wurde unterzeichnet, Nato und Warschauer Vertrag begannen, sich in politische Organisationen umzuwandeln. Auf einem Gipfeltreffen in der französischen Hauptstadt wurde 1990 die Pariser Charta unterzeichnet. Ein Dokument für die Schaffung eines Systems der Zusammenarbeit, aber vor allem zur Herausbildung einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur. Alles bewegte sich in diese Richtung.
DIE WELT: Daß vieles davon überholt ist, liegt doch aber auch daran, daß es den Warschauer Pakt, die Sowjetuniuon nicht mehr gibt?
Gorbatschow: Kaum existierte die Sowjetunion nicht mehr, begannen neue, verantwortungslose geopolitische Spiele. Der Westen und vor allem Amerika wollten die Situation ausnutzen, um Fisch im schmutzigen Wasser zu fangen. Im vergangenen Jahr trat ich anläßlich des 75jährigen Jubiläums von „Time Magazine“ zusammen mit Clinton auf. Der amerikanische Präsident sagte in seiner Rede unter anderem: „Das 20. Jahrhundert ist zum Jahrhundert Amerikas geworden. Mit Gottes Hilfe müssen wir alles tun, damit auch das 21. Jahrhundert amerikanisch wird.“ Aus dieser Philosophie geht die Politik hervor, wie wir sie gegenwärtig erleben. Es ist der Anspruch auf Weltherrschaft, der übrigens auch den erstarkenden Europäern ihren Platz zuweist: Ja, ihr seid eine wirtschaftliche Macht, aber in politischer Hinsicht seid ihr Zwerge. Ich glaube, die Weltherrschaftsambitionen sind als Utopie noch schlimmer als die kommunistische. Für diese Utopie, durch den Kommunismus alle glücklich zu machen, haben wir bereits teuer bezahlt.
DIE WELT: Wie sehen Sie in der gegenwärtigen Situation die Rolle der russischen Außenpolitik?
Gorbatschow: Rußland als Mitglied des Sicherheitsrates ist mitschuldig an der Krise auf dem Balkan. Es hätte eine stärkere präventive Rolle spielen müssen, um zu verhindern, daß die Krise diese Ausmaße annimmt. Auch hat Rußland seine Möglichkeiten nicht genutzt, einen intensiven Dialog mit der jugoslawischen Führung zu führen.
DIE WELT: Meinen Sie nicht, daß Präsident Jelzin mit der Ernennung von Wiktor Tschernomyrdin zum Sonderbeauftragten neue Akzente gesetzt hat?
Gorbatschow: Ich teile den Standpunkt des Präsidenten nicht, der das Gespann Primakow­Iwanow gegen Tschernomyrdin ausgetauscht hat. Das sind alles Intrigen in der oberen Etage der Macht: Jelzin ist nach seiner Krankheit in den Kreml zurückgekehrt und mußte feststellen, daß ihm nur noch zwei Prozent der Bevölkerung vertrauten. Primakow dagegen lag bei 63 Prozent. Also installiert er Tschernomyrdin, ernennt Stepaschin zum Ersten Vizepremier. Aber das sind doch alles Dummheiten. Der Präsident beschäftigt sich mit Intrigen, während Rußland eine seriöse Politik braucht. Und wenn jetzt über die Entlassung des Regierungschefs spekuliert wird, kann ich nur sagen: Primakow und seine Regierung, die das Land sowohl vor den extremen Liberalen als auch vor den fundamentalistischen Kommunisten bewahren, müssen im Amt bleiben.
DIE WELT: Michail Sergejewitsch, wenn Sie heute mit dem Abstand von zehn Jahren auf den Vereinigungsprozeß und andere Ihrer damaligen Entscheidungen zurückblicken, was würden Sie heute anders machen?
Gorbatschow: Ich glaube, wir sind damals den richtigen Weg gegangen. Die Vereinigung Deutschlands, die Beendigung des Kalten Krieges, der Weg in Richtung Demokratie und Freiheit ­ das alles war nötig, und ich bleibe Optimist. Es ist der Westen, der diesen Weg verlassen und seine Strategie geändert hat. Es ist an der Zeit, zur Ausgangslage zurückzukehren, zur Politik der gleichberechtigten Zusammenarbeit.
DIE WELT: Wie stellen Sie sich das praktisch vor?
Gorbatschow: Insgesamt wird es schwierig sein, zur Ausgangslage vor dem 23. März zurückzukehren. Politisch und moralisch haben die Nato und die USA bereits verloren. Doch gerade in dieser Situation sollte nicht alles, was bisher erreicht wurde, in Bausch und Bogen verworfen werden. Die partnerschaftlichen Kontakte müssen erhalten werden, es sollte alles getan werden, um zu helfen, damit die USA und Europa einen Ausweg aus der Sackgasse finden. Es muß der Weg zur Gestaltung neuer, wohlmeinender Kooperationsbeziehungen beschritten werden. Hier gibt es große Möglichkeiten sowohl für Rußland als auch für die Europäer, ja, auch für die USA. Wir besitzen gewaltige Ressourcen, ein Volk, das bereit ist, neue Technologien und ganze Modernisierungsprogramme umzusetzen.
DIE WELT: Und konkret in der Jugoslawien-Frage?
Gorbatschow: Auf einem Treffen der Friedensnobelpreisträger Ende April in Rom haben wir uns für die sofortige Beendigung der Militäraktion, die Wiederherstellung des Autonomiestatus für den Kosovo, die Rückkehr der Albaner und die Stationierung internationaler Kräfte ausgesprochen. Der gesamte Prozeß der politischen Regelung muß von nun an unter der Ägide der UNO und auf der Grundlage von Beschlüssen des Sicherheitsrates stattfinden. Dazu wäre eine internationale Konferenz nötig, wie sie von den Italienern und den Deutschen vorgeschlagen worden ist. Es wäre jedoch ein Irrtum anzunehmen, daß europäische Fragen ohne Rußland lösbar sind. Es wäre ebenso eine Fehlkalkulation zu glauben, ein schwaches Rußland könne in die Ecke gedrängt werden. Ich habe immer gesagt: Es gibt kein freies, sicheres Europa ohne Rußland und noch viel weniger gegen Rußland, es geht aber auch nicht ohne die USA und noch viel weniger gegen die USA.
DIE WELT: Auch zehn Jahre nach der Vereinigung ist in Deutschland die Frage nach den Enteignungen zwischen 1945 und 1949 in der sowjetischen Besatzungszone ein brisanter Streitpunkt geblieben. War das Festschreiben dieser Enteignungen tatsächlich die Bedingung für die Zustimmung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung, wie es die Kohl-Regierung behauptete, oder wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar?
Gorbatschow: Diese Frage wurde im Kontext mit der Vereinigung nicht als unbedingte Voraussetzung aufgeworfen. Modrow hatte sie zwar bei unserer Begegnung am 6. März in Moskau angesprochen, ich reagierte indes nicht darauf. Modrow hat sich dann am 7. März 1990 in einem Brief zu diesem Thema an mich und an Kohl gewandt. Als Antwort darauf gab die sowjetische Regierung am 28. März eine Erklärung ab. Darin wurde gesagt, daß die Sowjetunion gegen die Versuche sei, dieses Eigentum im Falle der deutschen Vereinigung in Frage zu stellen. Die Sowjetunion teile vielmehr den Standpunkt der DDR-Regierung über die Notwendigkeit des Schutzes der sozial-ökonomischen Rechte und Interessen von Millionen Bürgern der DDR.
DIE WELT: Läßt sich daraus nicht eine deutliche Forderung der sowjetischen Seite herauslesen, die unter den obwaltenden Umständen als Bedingung hätte aufgefaßt werden können?
Gorbatschow: Unser Standpunkt war unzweideutig. Wir gingen davon aus, daß die DDR in den Verhandlungen mit den Vertretern der Bundesrepublik auf ihrer Position bestehen wird. Wir, die sowjetische Regierung, fixierten unsere Unterstützung für die DDR-Position. Doch nirgendwo in dem Dokument findet sich auch nur eine Anspielung darauf, daß wir, sollte die Führung der Bundesrepublik diese Position zurückweisen, den Vereinigungsprozeß sprengen würden. Das wäre einfach absurd gewesen.
DIE WELT: Michail Sergejewitsch, im kommenden Jahr werden planmäßig Präsidentschaftswahlen in Rußland abgehalten.
Werden Sie noch einmal kandidieren?
Gorbatschow: Darauf kann ich nur mit einem einzigen Wort antworten. Nein.