Frankfurter Rundschau 10.5.99

Öl bedeutet Leben
Neue Pipeline von Baku zum Schwarzen Meer eröffnet

Von Stefan Koch (Baku)
Die alten Villen von Baku haben Patina angesetzt. Wolldecken dichten notdürftig so manches Fenster ab, und auf den Dächern liegen rote und schwarze Ziegel direkt neben Wellblech. Wo vor 80 Jahren die Familien Rothschild und Nobel zum letzten Mal ihr Winterquartier bezogen, herrscht heute eine unwirkliche Atmosphäre. Das Monaco Zentralasiens büßte schon vor Jahrzehnten seinen vielbeschriebenen Charme ein. Das neue Symbol der Region steigt dem Besucher dagegen in allen Straßen und Gassen in die Nase: der Geruch nach Öl und Meer.
An den sanften Hängen des auslaufenden Kaukasus gelegen, bietet Baku direkt am Kaspischen Meer eine faszinierende Kulisse. Hochhäuser am Ufer und Bohrtürme im Wasser erinnern zwar daran, daß auch zu Zeiten der sozialistischen Sowjetrepublik Aserbaidschan viele Hoffnungen in die Förderung von Erdöl und Erdgas gesetzt worden sind. Die prächtigen Domizile der Ölbarone der Jahrhundertwende prägen aber noch immer das Stadtbild. Damals wie heute hoffte nahezu die gesamte Bevölkerung, von diesem Reichtum der Natur profitieren zu können. Doch damals wie heute wurden auch viele der Erwartungen enttäuscht.
Seit dem Ende der Sowjetunion präsentieren sich zwar unzählige internationale Energiegesellschaften in der Hauptstadt des jungen Staates Aserbaidschan. Die Einnahmen aus der Förderung entsprechen bisher aber eher einem Rinnsal als einem großen Strom. Das könnte sich allerdings bald ändern: Vor wenigen Tagen wurde eine Pipeline in Betrieb genommen, die von Baku direkt ans Schwarze Meer führt. Auf der rund 900 Kilometer langen Strecke von Bakubis nach Supsa in Georgien soll es eine Tageskapazität von bis zu 100 000 Barrel geben.
Die strategische Bedeutung dieses Bauwerks ist immens: Nach langen Jahren des Verhandelns gibt es nun endlich eine Alternative zu dem Transport über russisches Territorium. Mit jedem Barrel, das durch die neuen Rohre strömt, rücken die Ölfelder am Kaspischen Meer enger an den Westen und verringern die Abhängigkeit Aserbaidschans von seinem übermächtigen Nachbarn. Bevor diese hochfliegenden Strategien auch im Alltag erste Spuren hinterlassen, dürfte allerdings noch einige Zeit ins Land gehen. Denn noch erzeugen die Lockmittel der westlichen Konsumgesellschaft eher zwiespältige Gefühle: Die grellen Leuchtreklamen und teuren Restaurants erinnern viele Aserbaidschaner immer wieder daran, von welcher Welt sie ausgeschlossen bleiben. Die aufdringliche Werbung ist längst Wasser auf die Mühlen religiöser Fanatiker, die das Nachbarland Iran mit seiner Abgrenzungspolitik als Vorbild preisen.
Die geringen Einnahmen in den ersten Jahren der Unabhängigkeit schwächten das Interesse an dieser Region aber keineswegs ab. Die weltweit operierenden Ölfirmen und viele Regierungen der westlichen Industriestaaten lassen sich nicht in ihrem Glauben erschüttern, sich mit Hilfe der Energiereserven am Kaspischen Meer aus der Abhängigkeit der großen erdölexportierenden Länder zu befreien. Obwohl die Angaben über die Größe der Ölfelder in den vergangenen Jahren ständig nach unten korrigiert worden sind und schon längst nicht mehr von einem Kuwait des 21.  Jahrhunderts gesprochen werden kann, geistern zwei alte Begriffe durch viele Diskussionen rund um das Kaspische Meer. Im „Großen Spiel“ konkurrierten im vergangenen Jahrhundert die Großmächte Rußland und Großbritannien um den Einfluß in dieser Gegend, der eine Schlüsselrolle für ganz Zentralasien beigemessen worden ist. Doch schon Zar und Königin mußten sich damit abfinden, daß sich die vielen regionalen Konflikte nicht aus der Ferne lösen ließen - sei es in Kurdistan, Tschetschenien oder am Berg Karabach. Nicht anders ergeht es den heutigen Ölgesellschaften, deren kostenträchtige Pipeline-Pläne schon so manches Mal von Unruhen in den entlegenen Gebieten durchkreuzt worden sind.
Sind die Entwicklungschancen dieser Region das Gesprächsthema, wird früher oder später auch die „Seidenstraße“ ins Feld geführt, die durch Zentralasien führte. Dieser alte Handelsweg von China nach Europa verlor zwar im 16. Jahrhundert seine strategische Bedeutung. Nichtsdestotrotz blieb der Ruf einer Route, die weit mehr als eine bloße Handelsverbindung war. Auf der „Seidenstraße“ wurden neben wertvollen Waren eben auch Ideen und Philosophien weitergegeben. Von der „Seidenstraße“ profitierten außer den Handelsleuten aus aller Welt aber vor allem die Länder am Wegesrand. Im Schatten der mächtigen Karawansereien wuchsen vor Jahrhunderten Städte mit stabiler Infrastruktur und vielgerühmten Universitäten. Genau an diesen Gedanken wollen die Handelsleute unserer Tage anknüpfen: Die Unternehmenszentralen von Siemens, Philipp Holzmann und Demenx haben weniger das Ölgeschäft im Kopf als vielmehr die nachgeordneten Bereiche. Soll der Bau von weiteren Pipelines tatsächlich in Angriff genommen werden, sind neue Straßen unverzichtbar, Reparaturwerkstätten mit modernen Maschinen und zeitgemäße Wohnungen. Wie Vertreter dieser Firmen einmütig formulieren, wachsen daher bei vielen deutschen Unternehmen große Erwartungen - auch wenn die klassische Ölförderung nicht in ihr Spektrum fällt.
Erste Kontakte in diese Region versuchten sie vor zwei Jahr zu knüpfen, als der damalige Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt zu einer Rundreise durch diese hoffnungsvolle Region Asiens einlud. Mit Erstaunen mußten die deutschen Unternehmen dabei allerdings feststellen, daß internationale Konzerne wie British Petrol, Chevron und Agip längst ihre Claims abgesteckt hatten.
Die Macht dieser weitverzweigten Geldgeber erleben aber nicht nur die deutschen Wirtschaftsleute, sondern vor allem auch die Moskauer Staatsmacht. Die Apparatschiks alten Schlages müssen mitansehen, wie ihre geostrategischen Überlegungen an der „Südflanke“ Rußlands mehr und mehr durch internationale Gesellschaften außer Kraft gesetzt werden. Die Regierungsvertreter des jungen Aserbaidschan reiben sich unterdessen die Hände, sind ihnen doch die smarten, aber kühl kalkulierenden „businessmen“ aus aller Welt allemal lieber, als die russischen Truppen, die noch immer im benachbarten Kaukasus stehen. Präsident Geidar Alijew gibt sich daher alle Mühe, mit den Nachbarn in der Ukraine, Georgien und Kasachstan ein Gegengewicht zum nördlichen Koloß aufzubauen. Bei der offiziellen Eröffnung der neuen Pipeline sagte der Präsident denn auch kurz und bündig: „Öl bedeutet Leben.“