Frankfurter Rundschau 5.5.99

Hetzkampagne gegen islamistische Abgeordnete

öhl ATHEN, 4. Mai. Das türkische Establishment hat ein neues Feindbild:
Merve Kavakci. Galt bisher der PKK-Chef Abdullah Öcalan als Staatsfeind Nummer 1, so beginnt nun die junge Abgeordnete der islamistischen Tugend-Partei (FP) ihm diese Rolle streitig zu machen. Die Tumulte, die Kavakci am Sonntag im Parlament auslöste, als sie als erste Frau in der Geschichte der türkischen Republik den Plenarsaal mit einem Kopftuch betrat, waren wohl nur ein Vorgeschmack auf das, was nun folgt.
Bürgerliche Politiker und große Teile der Medien schießen sich auf Kavakci ein, sehen Gefahr für die weltliche Verfassungsordnung der Türkei. „Kavakci ist Agentin des Auslands“, erklärte die liberale Zeitung Cumhuriyet. Die FP-Abgeordnete sei „nicht zufällig ins Parlament gekommen“, ahnt das Massenblatt Hürriyet. Sie habe Verbindungen zur militanten Palästinenserorganisation Hamas, schreibt die Zeitung Milliyet und rückt damit die 31Jährige in den Dunstkreis des Terrorismus. Auch Staatspräsident Süleyman Demirel glaubt zu wissen, daß die junge Frau als „Agent provocateur“ im Parlament sitzt. Es gebe Beweise, daß Kavakci „Verbindungen zu bestimmten Ländern“ habe. Welche Länder das sein könnten, Iran etwa oder Saudiarabien, ließ der Staatschef offen.
Nachweisliche Verbindungen ins Ausland hat die Computersoftware-Spezialistin tatsächlich: sie verbrachte einen Teil ihrer Jugend in den USA, wo noch heute ihre Eltern leben. Während Demirel durch die Kopftuchtracht den Tatbestand des „Separatismus“ erfüllt sieht und die Staatsanwälte gegen die Abgeordnete wegen des Verdachts der „Volksverhetzung“ ermitteln, bleibt die parlamentarische Karriere der Merve Kavakci in der Schwebe. Ihren Amtseid konnte sie am Sonntag wegen der Tumulte nicht ablegen, die Sitzung wurde ohne sie fortgesetzt. Versäumt sie fünf Sitzungen, würde sie ihr Mandat verlieren.