junge Welt 05.05.1999

Gelangen die Faschisten in die türkische Regierung?

jW sprach mit »Wahlbeobachterin« Beate Rudolph
(Teilnehmerin der Delegation, die - unter Schirmherrschaft der Grün-Alternativen Liste in Hamburg - die Wahlen in der Türkei beobachten sollte)

F: In der Türkei wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach eine rechtsextreme Partei, die MHP, an der Regierung des Landes beteiligen. Wer profitiert von dem Wahlergebnis in der Türkei?
Eigentlich das Militär. Und die MHP, die »Grauen Wölfe«, da sie die Unterstützung des Militärs haben. Die Freunde der HADEP-Partei waren stärker darüber geschockt, daß die faschistische MHP so viele Stimmen bekommen hat, als darüber, daß sie ihr Wahlziel nicht erreicht haben. Es herrscht jetzt große Unsicherheit in der Türkei.
Das Wahlergebnis ist verheerend. Die Faschisten sind die zweitstärkste Partei geworden. Sowohl die Repressionen gegenüber Kurden als auch gegenüber anderen Minderheiten, wie den Aleviten, werden sich verschärfen. Das kann jetzt auch relativ offen geschehen. Was die »Zivilfaschisten« immer heimlich machen mußten, kann jetzt als Staatspolitik durchgesetzt werden.
F: Nur zwei Tage lang durfte sich die unter der Schirmherrschaft der grünen Bürgerschaftsfraktion GAL stehende Hamburger Delegation in Diyarbakir aufhalten. Sie mußte ihre Wahlbeobachtung in Istanbul fortsetzen. Was ist Ihnen in Diyarbakir passiert?
Wir sind ohne Angaben von Gründen zurückgeschickt worden. Am Tag nach unserer Abreise sollte eine Kundgebung der prokurdischen HADEP-Partei in Diyarbakir stattfinden. Wir haben erfahren, daß sie eine halbe Stunde vor Beginn verboten worden ist. Es gab an die 8 000 Festnahmen, und die Leute sind zusammengeknüppelt worden. Da war klar, daß keine Ausländer, egal ob von der Presse oder von der Delegation, das mitkriegen sollten.
F: Inwiefern wurden Sie behindert?
Wir sind eine Woche vor den Wahlen in Diyabakir angekommen. Von Anfang an wurden wir von zwei Zivilpolizisten bewacht, die uns verboten, uns mit Mitgliedern der HADEP-Partei und Gewerkschaftsmitgliedern zu treffen. Es ist uns aber gelungen, Kontakt aufzunehmen. Dann wurden wir zurückgeschickt und haben unsere eigentliche Wahlbeobachtung in einem Stadtteil von Istanbul fortgesetzt, wo uns erlaubt wurde, in das Wahllokal zu gehen. Wir durften trotz Presseausweis keine Fotos machen. Von anderen Delegationen haben wir gehört, daß ihnen nicht einmal die Möglichkeit gegeben wurde, in die Wahlbüros zu gehen, und daß sie von schwerbewaffneten Sicherheitskräften direkt ins Taxi gebracht und zum Hotel zurückgefahren wurden.
Von Freunden aus den kurdischen Regionen und aus Zeitungsberichten haben wir erfahren, daß die Leute in sehr vielen Dörfern ihre Wahlzettel offen und in Anwesenheit von bewaffneten Militärs ausfüllen mußten. Sie wurden angewiesen, ihr Kreuz entweder bei der MHP, also bei den Faschisten, oder bei der Partei zu machen, der der dortige Militärkommandant angehörte.
In Dersim und in Van sind Säcke voller Wahlzettel verschwunden. Auch in vielen Stadtteilen von Istanbul, etwa in dem kurdisch-alevitischen Viertel Gazi Osman Pasa, soll die Zivilpolizei bei kurdischen Familien von Haustür zu Haustür gegangen sein und ihnen gedroht haben.
F: Das Militär soll auch gedroht haben, das Dorf Agri niederzubrennen, falls die Einwohner für die HADEP stimmten. Es sollen große Mengen von Stimmzetteln auf Müllhalden gefunden worden sein.
Ja. Bei der letzten Wahl wurden ganze Säcke voll Wahlzettel im Tigris bei Diyarbakir gefunden. Menschen aus der Region, die das gesehen haben, haben mir davon berichtet.
Und es wird wieder befürchtet, daß Wahlurnen und Wahlzettel verschwanden, während die Wahlurnen aus den Dörfern mit Militärhelikoptern abgeholt und zur Auszählung gebracht wurden.
Was auf dem Weg zur Auszählung mit den Stimmzetteln passierte, weiß keiner. Eine deutsche Wahlbeobachterdelegation hat berichtet, daß am 19. April gegen 17.20 Uhr Ortszeit spielende Kinder große Mengen Stimmzettel auf der zentralen Mülldeponie von Antep im Stadtteil Sahinbey gefunden haben, auf denen für die HADEP gestimmt worden war.
Interview: Ulrike Kirmer