Neue Zürcher Zeitung Donnerstag, 29.04.1999

Selbstsichere Nationalisten in der Türkei
Ankara vor einer aussenpolitischen Wende?

Der Triumph der türkischen Nationalisten bei den Wahlen von Mitte April widerspiegelt sich in der Zusammensetzung des neuen Parlaments. Erstmals in der Geschichte der Republik wird die Mehrheit der Sitze vom Block der Nationalisten besetzt; alleine die Rechtsextremisten verfügen über 130 Mandate. Liberale Kreise reagieren beklommen und sprechen vom jugoslawischen Virus, der die Türkei befallen habe.

it. Istanbul, 28. April
Über eine Woche nach den Parlamentswahlen beginnen die Türken zu realisieren, dass die Wahlresultate die Politik ihres Landes vermutlich stark verändern werden. Das Spektrum rechts der Mitte, das in den letzten 40 Jahren fast ununterbrochen die Regierungen gebildet hatte, ist zusammengebrochen. Die Mutterlandspartei (Anap) unter der Führung von Mesut Yilmaz sowie die Partei des Rechten Weges (DYP) von Tansu Ciller schrumpften auf einen Wähleranteil von 25 Prozent. Die islamistische Tugendpartei musste wegen der Intervention der Armeeführung sowie der beispiellosen juristischen Verfolgung ihrer Kader einen Verlust von fast einem Drittel ihrer Wähler hinnehmen, womit dem politischen Islam in der Türkei vorerst Einhalt geboten wäre. Die Linke, traditionell durch die Republikanische Volkspartei repräsentiert, wird in diesem Parlament nicht vertreten sein. Der Sieg gehört ganz den Nationalisten.

Überwältigender Rechtsrutsch
Wie überwältigend der Rechtsrutsch in der Türkei war, zeigt sich an der Sitzverteilung im 550 Sitze zählenden Parlament. Wurde die rechtsextreme Partei der Nationalen Bewegung (MHP) in der letzten Legislaturperiode nur gerade durch zwei Parlamentarier vertreten, so verfügt sie heute über 130 Abgeordnete. Die Partei der Demokratischen Linken (DSP) von Bülent Ecevit hat mit 136 Sitzen ihre Macht fast verdreifacht. Die DSP wird trotz ihrem Namen längst nicht mehr der türkischen Linken, sondern der nationalistischen Bewegung zugerechnet. Überraschende Erfolge verbuchten schliesslich auch jene Nationalisten, die in den letzten Jahren aus machtpolitischen Überlegungen sich den konservativen Parteien DYP und Anap oder der islamistischen Fazilet angeschlossen hatten. Eine Opposition, die gegen den mächtigen Block der Nationalisten antreten könnte, gibt es im neuen Parlament nicht.
Die Türkei hat sich verändert, lautet das beklemmende Fazit in liberalen Kreisen. Anzeichen für den Rechtsrutsch gab es zwar schon lange. Seit Mitte der neunziger Jahre ist die MHP die dominierende Kraft in den Universitäten. MHP- Militante, auch Idealisten genannt, greifen im Campus regelmässig linke Kommilitonen an oder schliessen kurdische Studenten vom Unterricht aus, ohne dass dies verhindert würde. In Fussballstadien feiern die Fans den Sieg ihrer Mannschaften oft mit nationalistischen Liedern und bilden mit den Fingern den Kopf eines Wolfes - das Siegessymbol der MHP. Nach der Verhaftung des Kurdenführers Öcalan letzten November in Rom zogen jugendliche Nationalisten durch die Strassen, setzten italienische Fahnen in Brand und schlugen Kurden zusammen.
«Wir glaubten, diese Aktionen seien von staatlichen Stellen organisiert worden und darum auch kontrollierbar», sagt im Gespräch der Vorsitzende der Partei für Frieden und Solidarität (ÖDP), Ufuk Uras. Diese Wahlen hätten aber gezeigt, dass die Bereitschaft zu Gewalt im Namen des Staates einer Grundstimmung in der Bevölkerung entspreche. Die Türkei sei vom jugoslawischen Virus befallen, sagt er beunruhigt. Die ÖDP, ein Sammelbecken der türkischen linken und liberalen Intellektuellen, hat als einzige türkische Partei während ihrer Wahlkampagne für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage plädiert. Sie erhielt gerade 0,8 Prozent der Stimmen.

Böse Erinnerungen
Noch ist unklar, ob die MHP und die DSP tatsächlich eine Regierungskoalition bilden werden. Die zwei Parteien haben vieles gemein. Beide haben nie den Begriff Kurdenfrage benützt und sind entschlossen, jedes Aufbegehren der kurdischen Bevölkerung in der Türkei im Keim zu ersticken. Sie stimmen ferner darin überein, dass Ankara weder gegenüber Griechenland noch in der Zypern-Frage Kompromisse einzugehen habe. Am meisten kennzeichnet sie aber die Überzeugung, wonach die Türkei eine Regionalmacht sei, welche im Nahen Osten und in Zentralasien, auf dem Kaukasus wie auf dem Balkan vitale Interessen zu verteidigen habe.
Die Vergangenheit allerdings trennt die zwei Parteien. Die Erinnerung an die MHP der siebziger Jahre lässt ältere DSP-Mitglieder immer noch schaudern. Mit dem Aufruf, das Türkentum gegen den Kommunismus zu retten, waren die als Graue Wölfe berüchtigten, paramilitärischen MHP-Kommandos damals in blutige Strassenschlachten involviert. Zahllose politische Morde an linken Widersachern gehen auf ihr Konto. Ecevit, der bereits Ende der siebziger Jahre Regierungschef der Türkei war, prangerte die MHP damals als eine faschistische, Nazi-artige Macht an, die nach und nach staatliche Institutionen besetze.

Veränderte Zeiten?
Die Zeiten hätten sich verändert, sagt der Kolumnist der nationalistischen Tageszeitung «Türkiye» Altemur Kilic im Gespräch. In den siebziger Jahren glaubten die MHP-Militanten, den Staat vor dem Kommunismus beschützen zu müssen. Denn türkische Gewerkschaften, Parteien und Intellektuelle seien damals der kommunistischen Ideologie verfallen gewesen. Heute hingegen sei in der Bevölkerung das Gefühl des militanten Nationalismus weit verbreitet. Der 75jährige Kilic muss es wohl wissen. In den fünfziger Jahren Pressesprecher des 1960 gestürzten und später gehenkten Ministerpräsidenten Adnan Menderes, schloss er sich darauf der extrem- nationalistischen Bewegung an und wurde zu einem ihrer wichtigsten Ideologen. Die Ideologie der MHP leitet sich vom Pan-Turanismus ab, diesem wirren, bald ein Jahrhundert währenden Traum einer Vereinigung aller Turkvölker von Zentralasien bis zum Balkan. Die Rhetorik mancher MHP-Kader erinnert an Nazi-Deutschland. In den Schriften des verstorbenen MHP-Gründers Alparslan Türkes ist etwa viel die Rede von der moralischen und kulturellen Überlegenheit der türkischen Rasse. Die MHP ist ferner religiös. Was sie von der islamistischen Fazilet unterscheidet, ist laut Kilic der Wille seiner Partei, den Islam von den arabischen Elementen zu reinigen. Für die MHP ist ein Türke zuerst ein Türke und erst dann ein Muslim.

Commonwealth turksprachiger Staaten
Kilic tritt in aussenpolitischen Fragen, so sagt er, für die Realpolitik ein. Da eine organische Vereinigung der türkischen Welt heute kaum realistisch sei, strebe die MHP ein Commonwealth der sieben turksprachigen Staaten an. Der Verwirklichung dieses Ziels wolle seine Partei höchste Priorität einräumen. Für die Türkei sei es auch nicht realistisch, ihre Bindungen zur Europäischen Union ganz abzubrechen. Ankara könne aber nicht hinnehmen, von der EU erniedrigt und permanent draussen vor der Tür gelassen zu werden. Es solle deshalb den Vertrag zur Zollunion nochmals überarbeiten.
Hinter Kilics Weltbild versteckte sich der Anspruch einer Nation, die sich als Regionalmacht versteht. Die Türkei unterstütze die Unabhängigkeit Kosovos, nicht aber der Kurden im Nordirak, sagte er. Die Situation der zwei Völker möge zwar identisch sein. Der Unterschied bestehe aber darin, dass die Unabhängigkeit Kosovos im Interesse der Türkei liege, die Unabhängigkeit der Kurden aber nicht. Alle grossen Staaten hätten doppelte und dreifache Standards - so auch die Türkei, meint der Kommentator selbstsicher. Er scheint internationalen Druck wegen der systematischen türkischen Menschenrechtsverletzungen oder gar eine Intervention wie in Kosovo nicht zu befürchten. Innenpolitisch tritt er für die Schliessung der prokurdischen Demokratiepartei (Hadep) ein. Die Hadep hat bei den Kommunalwahlen die Bürgermeisterämter der wichtigsten Städte Südostanatoliens für sich gewinnen können.

Isolation als Folge
Die Wähler haben die DSP und die MHP beauftragt, die Türkei ins 21. Jahrhundert zu führen, lautet die Bilanz der Presse. Präsident Demirel wird Anfang Mai den DSP-Vorsitzenden Ecevit mit der Regierungsbildung beauftragen. Um eine tragfähige Regierung zu bilden, wird eine Drei- Parteien-Koalition benötigt. Ironischerweise scheint allein eine Koalition der Nationalisten zwischen DSP, MHP und wahrscheinlich der Anap Stabilität zu garantieren. Eine solche Koalition würde aber die Türkei unausweichlich in die aussenpolitische Isolation treiben. Die Anhänger der DSP wie der MHP haben das Credo des MHP-Gründers Türkes verinnerlicht, wonach der Türke keinen Freund ausser den Türken hat.