Wie stark sind türkische Faschisten in Deutschland?
jW sprach mit Fikret Aslan, Mitautor des Buches »Graue Wölfe heulen wieder« (1997)

F: In der Türkei wurde ein neues Parlament gewählt. Wie funktioniert das Wahlsystem?
1950 fanden in der Türkei die ersten sogenannten freien Wahlen statt. Jede Regierung, die seitdem an die Macht kam, hat das Wahlsystem so verändert, wie sie es gerade brauchte. Beispielsweise bei den zweiten Wahlen 1954 bekam die konservative ANAP-Partei 57 Prozent der Wählerstimmen. Von insgesamt 542 Sitzen im Parlament aber erhielt sie 505. Die Republikanische Volkspartei, CHP, bekam 35 Prozent der Stimmen und nur 31 Abgeordnete. Seit 1983 gibt es in der Türkei ein Verhältniswahlrecht, ähnlich wie in der BRD. Mit einem Unterschied: Hier gibt es eine Fünf-Prozent-Klausel, in der Türkei eine Zehn-Prozent-Hürde. Damit sollen kleinere Parteien, vor allem systemkritische und pro-kurdische, vom Parlament ausgeschlossen werden. Alle Stimmen, die diese Parteien erhalten, fallen automatisch der Partei mit den meisten Stimmen zu. Mit etwa 33 Prozent Wählerstimmen ist es theoretisch möglich, die absolute Mehrheit im Parlament zu bekommen. In den letzten 75 Jahren hatte die Türkei 56 Regierungen, jetzt wird die 57. gebildet werden. Rein statistisch ergibt das eine Amtszeit von 1,3 Jahren. Aber allein in den letzten zehn Jahren wurde zehnmal gewählt.

F: Haben die Kosten des Krieges gegen die Kurden eine Rolle bei den Wahlen gespielt?
Der Krieg kostet nach offiziellen Angaben etwa acht bis zehn Milliarden DM im Jahr. 80 Prozent des Drogenhandels im Westen laufen über die Türkei. Und mit diesem Geld finanziert der türkische Staat den Krieg. Die Türkei ist das einzige Land, das offiziell mit Mafiageldern rechnet. Es gibt Verbindungen zwischen dem Staatsapparat, der Mafia, den Konterguerillabanden und den Spezialeinheiten. Hinter all dem steckt die faschistische Partei der Nationalen Bewegung, MHP. Und die wird als zweitstärkste Partei in das Parlament einziehen.

F: Was bedeutet das für die Regierungsbildung?
Die Demokratische Linkspartei von Bülent Ecevit wurde stärkste Partei, was sicher mit der Verhaftung Abdullah Öcalans zusammenhängt. Das heißt nicht zwangsläufig, daß die DSP auch die Regierung stellen wird. Daß Ecevit mit der MHP koaliert, halte ich für unwahrscheinlich. Außerdem kann er eine Koalition mit der ANAP und der Partei des Rechten Weges von Tansu Ciller eingehen. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, daß alle drei Parteien die neue Regierung stellen werden. Aber wie auch immer: Die MHP-Fraktion wird aus etwa 130 Abgeordneten bestehen. Und damit läßt sich schon eine Menge ausrichten.

F: Wie erklärt sich der Wahlerfolg der türkischen Faschisten?
Dieses Wahlergebnis ist das Produkt der offiziellen Politik des türkischen Staates seit dem Putsch 1980. Die Kriegshysterie der türkischen Regierung fördert den Nationalismus. Die Rechte in der Türkei hat auf der politischen und kulturellen Ebene die Hegemonie. Nach fast zwanzig Jahren zeigt das einfach seine Wirkung. Außerdem dürfen inzwischen auch diejenigen wählen, die zum Zeitpunkt des Putsches Kinder oder Jugendliche waren. Deren politische Sozialisation fand unter diesen Bedingungen statt. Schon bei den Wahlen 1995 wurde erwartet, daß die MHP einen Stimmenanteil von 15 bis 17 Prozent bekommt. Alle waren erstaunt, daß die MHP mit 8,2 Prozent nicht ins Parlament gekommen ist. Und dieses Mal wurde eben gleich das Original gewählt und nicht die Kopie, wie beim letzten Mal.

F: MHP als zweitstärkste Partei. Bedeutet das offenen Faschismus in der Türkei?
Hinter den Kulissen regiert die MHP schon lange in der Türkei. Vielleicht wird jetzt die Welt endlich begreifen, wer in der Türkei tatsächlich regiert. In Kurdistan gibt es seit 15 Jahren Krieg. Oppositionelle werden verfolgt, verhaftet, gefoltert und »verschwinden«, werden extralegal hingerichtet. Mitglieder der MHP werden in den Kasernen militärisch ausgebildet und in den Spezialeinheiten im Kampf gegen das kurdische Volk eingesetzt. All die dreckigen Geschäfte besorgt die MHP. Natürlich werden sich die Repressionen weiter verschärfen. Vor allem wird das Wahlergebnis Konsequenzen für Abdullah Öcalan haben. Es ist damit zu rechnen, daß er zum Tode verurteilt wird. Bis jetzt gab es eine Hoffnung, daß dieses Urteil nicht vollstreckt werden würde. Aber bei diesen Mehrheitsverhältnissen halte ich das für ausgeschlossen.

F: Agiert die MHP auch in Deutschland?
In den letzten Jahren wurde es hierzulande etwas ruhiger um die MHP. Das heißt nicht, daß sie nicht gearbeitet hat: Immer wieder wurden Überfälle (Foto: Demo im November 1998 in Berlin) türkischer Faschisten auf Kurden und kurdische Vereine in Deutschland bekannt. Und einmal im Jahr halten sie hier auch ihren Kongreß ab. Daran nehmen bis zu 15 000 Menschen teil. Wenn die Türkei Länderspiele gewinnt, dann gibt es in größeren Städten hupende Autokonvois, in denen grölende Nationalisten sitzen, die die türkische Fahne aus dem Fenster schwenken. Aber mit dem Erstarken der faschistischen Bewegung in der Türkei müssen wir damit rechnen, daß sie auch hier verstärkt auftreten werden. Ein klassisches Arbeitsfeld der türkischen Faschisten sind die Ausländerbeiräte. Die sind zu 80 Prozent von ihnen besetzt. Und so machen sie die MHP bei den Politikern in der Bundesrepublik salonfähig. »Die sind ja demokratisch gewählt«, heißt es dann als Begründung für Kontakte, auch von SPDlern oder Grünen.
F: Wie ist es möglich, daß türkische Faschisten so stark in den Ausländerbeiräten vertreten sind?
Die sind eben am besten organisiert. Die islamistischen und faschistischen Gruppierungen verfügen über mehr als 1 000 Vereine in der gesamten BRD. Hinzu kommen Hunderte von Moscheen. Das ist eine enorme Kraft. Und wie gesagt, die deutschen Politiker arbeiten mit ihnen zusammen. Die MHP tauchte bis 1997 noch nicht einmal im Verfassungsschutzbericht auf. Obwohl bekannt ist, daß sowohl Morde als auch Anschläge auf ihr Konto gehen. Die PDS-Abgeordnete Ulla Jelpke stellte damals eine Anfrage im Bundestag. Seitdem tauchen sie in zwei Sätzen am Rande auf.
jW, 22.4.99       Interview: Birgit Gärtner