Rätselraten über die Absicht des Grauen Wolfes

Der türkische Nationalist Bahceli gibt sich gemäßigt
Im kurdischen Südosten regieren künftig kurdische Politiker. Sie befürchten in Zukunft eine Konfrontation mit den nationalistischen Grauen Wölfen.

Von Astrid Frefel, Istanbul

Wie ein Extremist spricht er nicht. Devlet Bahceli, der Chef der Nationalen Bewegungspartei (MHP) gibt sich betont zurückhaltend. Redet von Dialog, von sauberer und ehrlicher Politik und davon, daß seine Bewegung im Zentrum des politischen Fächers stehe und allen anderen Parteien gleich nah oder gleich fern sei. Bahceli und seine MHP sind die große Überraschung der Wahlen vom vergangenen Sonntag. 1995 schafften sie mit 8,5 Prozent nicht einmal den Sprung ins Parlament. Jetzt konnten sie ihren Anteil mehr als verdoppeln und wurden zweitstärkste Partei. In weiten Teilen Zentralanatoliens konnten sich die Nationalisten gar als Wahlsieger feiern lassen.
Als vor genau zwei Jahren Alparslan Türkes, der charismatische Führer der Grauen Wölfe, starb, entbrannte ein wüster Streit um sein Erbe, der mit Fäusten und Waffen ausgetragen wurde. Bahceli schaffte es im zweiten Anlauf, den Sohn von Türkes, Turgul Türkes, aus dem Rennen zu werfen.  Der 51jährige Doktor der Wirtschaftswissenschaften gehörte 1967 zu den Gründern einernationalistischen Jugendorganisation - bei uns bekannt als Graue Wölfe. In den 70er Jahren, als sich linke und rechte Gruppen blutige Straßenschlachten mit mehreren tausend Toten lieferte, arbeitete Bahceli als Dozent. 1987 holte ihn Türkes zur MHP.  Bahceli fleißig, zäh und vorsichtig, wurde die rechte Hand des großen Führers, beschäftigte sich mit Ideologie und Training, stand aber immer im Schatten von Türkes.
Seit die MHP unter seiner Leitung steht, hat Bahceli versucht, der Partei ein neues, moderates Profil zu verleihen. Nicht rechts außen, sondern in der politischen Mitte sei seine Partei angesiedelt, betonte er in allen Wahlsendungen. Von den bekannten Mafiagrößen grenzte er sich ab und achtete bei der Auswahl seiner Kandidaten auf tadellose Lebensläufe. Die Warnung der Militärs vor einer Bedrohung durch rassistische und nationalistische Kreise, die die Generäle nach dem Auffliegen von Mafiaskandalen aussprachen, scheint vergessen.
Bahceli hat es verstanden, die MHP aus allen Auseinandersetzungen der letzten Monate herauszuhalten. In allen heiklen Fragen lavierte er. Im Kopftuchstreit oder bei der achtjährigen Schulpflicht blieb er eine klare Antwort schuldig, denn seine Anhänger sind nicht nur Nationalisten, sondern auch dem Islam in seiner anatolischen Tradition eng verbunden.  Ihren harten Kern hat die MHP bei der Polizei und den Sicherheitskräften. 15 Jahre Krieg gegen die PKK hat diesen Kreis ständig erweitert. Die Neuwähler sind mehrheitlich männlich, jung, arbeitslos, leben in Anatolien oder sind von dort in die Vororte der Großstädte gezogen.
Der moderate Ton aus der Parteizentrale wurde von den Anhängern in der Wahlkampagne mehrmals empfindlich gestört. Graue Wölfe verübten an verschiedenen Orten Angriffe auf Wahlkonvois der prokurdischen Hadep und von Linksparteien. Die Nationalisten stehen zudem an der Spitze der chauvinistischen Kampagne seit der Festnahme von PKK-Chef Abdullah Öcalan. Sie fordern Rache und seine Hinrichtung.
So sind die Probleme schon vorprogrammiert. Nach den Wahlen vom Sonntag werden zum ersten Mal sechs Bezirke, die Millionenstadt Diyarbakir und Dutzende von Dörfern und Stadtteilen von Abgeordneten der prokurdischen Hadep regiert. Schafft die MHP den Sprung in die Regierung, ist die Konfrontation von Nationalisten und kurdischen Politikern vorprogrammiert. Wahlsieger Bülent Ecevit glaubt zwar, daß sich die MHP wirklich geändert habe, die meisten politischen Beobachter sind sich aber einig, daß die Wahlen zu einer stärkeren Polarisierung im Land geführt haben. ¸¸Bleibt die MHP bei ihrer rassistisch-nationalistischen Gewalt, kann die Türkei in eine neue Krise schlittern’’, erklärte der Soziologe Emre Kongar in der liberalen Zeitung ¸¸Cumhürriyet’’. Der Vormarsch der MHP zeigt, daß autoritäre Lösungen hoch im Kurs stehen. ¸¸Bis zu einer Demokratisierung müssen wir auf einen nächsten Frühling warten’’, lautet deshalb das Fazit im Massenblatt ¸¸Milliyet’’.
Stuttgarter Zeitung 22.4.99