Süddeutsche Zeitung 15.04.99

37 Millionen Bürger bestimmen ein neues Parlament
Den Türken wird die Wahl zur Qual
Mit einer Unzahl von Skandalen und Intrigen haben die meisten Parteiführer jeglichen Kredit bei der Bevölkerung verspielt

Von Wolfgang Koydl
Istanbul, 14. April – Eigentlich scheint nur Ex-Ministerpräsident Mesut Yilmaz die Hände in den Schoß zu legen. Alle anderen Spitzenkandidaten der türkischen Parlaments- und Kommunalwahlen jedenfalls recken auf ihren Plakaten den rechten oder den linken Arm steil nach oben, als gelte es, das Blaue vom Himmel nicht nur zu versprechen, sondern mit zupackendem Griff auch gleich herunterzuholen.  Indes: Die große Pose beeindruckt kaum einen der 37 Millionen Wahlberechtigten. Politik- und Parteienverdrossenheit haben ein sogar für türkische Verhältnisse erstaunliches Ausmaß erreicht. Am Wahltag, dem kommenden Sonntag, dürfte sich dies in ungültigen Stimmzetteln niederschlagen. Es ist die einzig mögliche Form des Protestes für den Wähler, da in der Türkei Wahlpflicht herrscht.
Die Flut an Bannern, Postern und Wahlkampfbussen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß zwischen Edirne und Erzurum eine der langweiligsten Kampagnen der jüngeren Geschichte zuende geht. Selbst Spitzenpolitiker wie Yilmaz oder die frühere Regierungschefin Tansu Ciller mußten Großkundgebungen im letzten Moment platzen lassen. Entweder waren überhaupt nicht genügend Interessierte erschienen, oder das Publikum verließ den Schauplatz, sobald der zur Unterstützung der jeweiligen Partei auftretende Pop-Star sein Gratiskonzert beendet hatte.
In der Türkei ist es verboten, Wählerumfragen zu veröffentlichen. Dennoch kristallisiert sich heraus, daß das nächste Parlament so zersplittert sein wird wie das alte. Die bisherige Volksversammlung war nach dreieinhalb Jahren vorzeitig aufgelöst worden, weil eine Regierungsbildung unmögliche geworden war. Seit Dezember 1995 hatte das Land vier Regierungen erlebt, die durchschnittlich acht Monate im Amt waren. Fast die Hälfte der Abgeordneten wechselte mindestens einmal die Partei.
An diesen Zuständen dürfte sich auch nach dem 18. April nichts ändern. Die meisten politischen Beobachter gehen davon aus, daß bis zu sechs Parteien den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde schaffen werden. Es ist sogar denkbar, daß keine von ihnen mehr als 20 Prozent der Stimmen erreicht, was Koalitionsbildungen zusätzlich erschweren würde. Die Zusammenarbeit ist ohnehin problematisch, weil die Führer der beiden linken und der beiden bürgerlichen Parteien einander nicht ausstehen können. Außerdem wird auf Wunsch des Militärs die islamistische "Fazilet"-Partei von der Regierungsbildung ausgeschlossen, womit eine der stärksten politischen Kräfte von vornherein entfällt.
Zum Favoriten der Wahl ist überraschend der gegenwärtige Ministerpräsident Bülent Ecevit geworden. Dem 74jährigen Alt-Politiker und seiner autoritär geführten "Demokratischen Linkspartei" (DSP) traut man zu, daß sie sogar auf mehr als 20 Prozent kommt und die Islamisten auf Rang zwei verweisen. Yilmaz' konservative "Mutterlandspartei" (ANAP) und Tansu Cillers "Partei des Rechten Weges" (DYP) streiten demnach um Platz drei. Knapp an der Zehn-Prozent-Hürde liegen Deniz Baykals sozialdemokratisch genannte "Republikanische Volkspartei" (CHP) und die militanten Nationalisten von der "Nationalen Bewegungspartei" (MHP).
Ecevit, der schon vor knapp einem Vierteljahrhundert dreimal Regierungschef war, wird zugute gehalten, daß er als einziger Spitzenpolitiker als unbestechlich und sauber gilt.  Alle anderen Parteien und ihre Führer waren in den letzten Jahren in eine Vielzahl von Skandalen verstrickt gewesen, von denen sie einander je nach Opportunität wieder freiwuschen. Die Wähler sahen es mit Grausen und wandten sich ab.
Das größte Wahlgeschenk erhielt Ecevit frei Haus aus Kenia geliefert: Die Festnahme des Chefs der separatistischen "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), Abdullah "Apo" Öcalan, in Nairobi heftete er sich und seiner Minderheitsregierung ans Banner. Für die Masse der türkischen Wähler war es die zweite historische Heldentat des schnurrbärtigen nationalen Sozialisten, nachdem er 1974 die Invasion Cyperns befohlen hatte.  Seitdem nennen ihn gläubige Anhänger nicht mehr nur den "Helden von Cypern" sondern "Kibris ve Kenya Fatihi" – "Eroberer von Cypern und Kenia".
Wichtiger als die Parlamentswahl sind den Türken indes die zeitgleich stattfindenden Kommunalwahlen. Dabei ist es alles andere als sicher, daß die Islamisten auch dieses Mal wieder die Bürgermeister von Ankara und Istanbul stellen werden, vor allem nachdem der populäre Oberbürgermeister der Bosporus-Metropole, Recep Tayyip Erdogan, unter einem Vorwand seines Amtes enthoben und ins Gefängnis geworfen worden ist.
Im Südosten des Landes dürfte die pro-kurdische "Demokratiepartei des Volkes" (HADEP) bei den Kommunalwahlen gut abschneiden. Obwohl Generalstaatsanwalt Vural Savas ein Verbotsverfahren eingeleitet hat, gilt es als sicher, daß sie den nächsten Bürgermeister von Diyarbakir, der Hauptstadt der Region, stellen wird. Im Amt dürfte er indes nicht lange bleiben.  Wenn er nicht gleich vom Gouverneur der Provinz wieder abgesetzt wird, würde er seinen Posten mit dem Verbot der Partei verlieren.