junge Welt 15.04.1999

Wie man Kriege inszeniert
Die »Friedens«verhandlungen von Rambouillet dienten einzig dem Zweck, die Öffentlichkeit auf den geplanten Krieg vorzubereiten.

Von Uwe Soukup
Als Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel, hatte es Hitler trotz der zurückliegenden sechs Jahre Diktatur, KZ-Terror und Gleichschaltung der Medien offensichtlich immer noch nötig, der Öffentlichkeit einen polnischen Angriffskrieg vorzugaukeln. Berühmt geworden ist Hitlers lächerliches »Seit fünf Uhr wird zurückgeschossen!«, das in den Morgenstunden des gleichen Tages aus den Volksempfängern im ganzen Reich dröhnte. Aus heutiger Sicht unvorstellbar, daß irgendjemand glauben konnte, daß Polen seinen hochgerüsteten, aggressiven Nachbarn im Westen angegriffen haben könnte - es gibt Lügen, die eine Beleidigung sind für den, dem sie aufgetischt werden. Um diesen »Angriff« zu beweisen, hatte man deutsche Soldaten in polnische Uniformen gesteckt, die den Sender Gleiwitz im Grenzgebiet überfielen. Die Geschichte kennt unendlich viele Fälle von Aggressionen, die gegenüber der eigenen Bevölkerung als Verteidigungsfall dargestellt werden. Der erste Krieg mit deutscher Beteiligung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor 54 Jahre n benötigt diese Lüge in modifizierter Form ebenso wie Hitler am Beginn des Zweiten Weltkrieges oder Reichskanzler Bethmann-Hollweg bei der Inszenierung des Ersten Weltkrieges. Diese Lüge ist bei der Inszenierung des Krieges gegen Jugoslawien mit dem Namen des Schlosses Rambouillet bei Paris verbunden.
Die NATO, so heißt es, führt den Krieg gegen Jugoslawien, um den Menschen im Kosovo zu helfen, die von der jugoslawischen Zentralmacht unterdrückt werden. Bevor das Militärbündnis, in dem die USA das Sagen haben, den unerklärten Krieg begann, habe man, so wird behauptet, alles getan, um Milosevic »zum Einlenken« zu bewegen. Es habe sich aber gezeigt, daß Milosevic nicht verhandeln wolle und zu keinerlei Kompromiß bereit sei, was bei den gescheiterten Verhandlungen von Rambouillet  offensichtlich geworden sei. Kritiker der NATO-Politik haben von Beginn des Krieges an darauf hingewiesen, daß Jugoslawien das Friedensdiktat von Rambouillet keinesfalls unterschreiben konnte, da die dort vorgesehene Besetzung des Kosovo durch NATO- Truppen, nicht anderer internationaler Organisationen (UNO, OSZE), einer Aufgabe der staatlichen Souveränität Jugoslawiens gleichgekommen wäre.
Tatsächlich bleibt diese Argumentation weit hinter der Verhandlungswirklichkeit von Rambouillet zurück, denn unbeachtet von der Öffentlichkeit und vor dieser weitestgehend verborgen, war in dem Vertrag, den die jugoslawische Delegation sich geweigert hat zu unterschreiben, vorgesehen, daß die NATO, unannehmbar genug, nicht nur volle Bewegungsfreiheit im Kosovo, sondern in der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien erhalten soll.
Die »verteidigungspolitische« Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Angelika Beer, äußerte in einem am Wochenende bekanntgewordenen Brief an ihre Fraktion (siehe jW vom 13. April) Kritik an der Geheimhaltung von Teilen des Rambouillet-Abkommens. In einem Anhang zum eigentlichen Abkommen werde die Souveränität Jugoslawiens weitestgehend eingeschränkt. Ihrem Fraktionskollegen, Außenminister Fischer, hat Angelika Beer vorgeworfen, Informationen über die kritischen Passagen des Rambouillet-Abkommens zurückgehalten zu haben. Es sei »vollkommen klar«, daß der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic so etwas nicht habe unterschreiben können. Seither wird die Öffentlichkeit von einer Fülle sich meist gegenseitig widersprechender Stellungnahmen bombardiert. So könne es nicht gewesen sein, erklärte der Ex-Bundeswehrgeneral Helge Hansen während einer Diskussion im Fernsehsender »Phönix«. Vollkommen absurd sei es, zu behaupten, man könne mit solch einem Verfahren 19 Demokratien versuchen zu hintergehen. (Mit »19 Demokratien« können nur die 19 NATO-Mitgliedsländer gemeint sein, also auch die Türkei, die dieser Tage zum wiederholten Male im Irak einmarschiert, um Kurden zu jagen und umzubringen. Die Türkei, eine Demokratie?) Die kunstvoll aufgebaute Legitimation für die kühl geplante und durchgeführte Zerstörung Jugoslawiens droht verloren zu gehen, die dröhnende Beteuerung »Wir haben wirklich alles versucht, um den Krieg zu verhindern, aber Milosevic hat alles vom Tisch gewischt!« ist in Gefahr, Seite an Seite mit »Seit fünf Uhr wird zurückgeschossen!« in die Geschichtsbücher, Kapitel Kriegsinszenierungen, einzugehen. Bundesaußenminister Joseph Fischer (Grüne) reagierte denn auch wie ein getroffener Hund (Foto: Der BRD-Außenminister kurz vor Kriegsbeginn in Frankreich mit dem serbischen Repräsentanten Milutinovic. Motto: Unterschreib oder stirb!). Er hat die Kritik der Verteidigungspolitikerin seiner eigenen Partei an der Kosovo- Politik als »übel« zurückgewiesen. »Die Vorstellung, daß ich da irgend etwas durchgefingert hätte, um die NATO und Deutschland in einen Krieg zu bringen, und das steckte da im Hintergrund dahinter, das finde ich übel«, bellte der Minister am Montag vor Journalisten in Brüssel. Das gehe an die persönliche Glaubwürdigkeit, und das werde er nicht auf sich sitzen lassen. Kurz darauf beteuerte Fischer, der am kommenden Sonnabend endlich heiraten möchte - wer weiß, wie lange dieser blöde Krieg noch andauert -, daß mit der jugoslawischen Delegation in Rambouillet und Paris überhaupt nicht über militärische Passagen des Abkommens gesprochen worden sei, weil sich Milosevic strikt geweigert habe, über die Stationierung ausländischer Soldaten in Serbien zu verhandeln. Eine absurde Argumentation: Hat der Vertrag nun vorgelegen oder nicht? Ist die Nichtunterzeichnung eines offensichtlich unzumutbaren Vertrages der vor der Öffentlichkeit inszenierte »Kriegsgrund« oder eine irgendwie dumm gelaufene Kleinigkeit? Es sei eine »absurde Vorstellung«, daß die NATO die Absicht habe, Jugoslawien zu besetzen, so Fischer weiter. Dies hätte auch Frankreich als Ko-Vorsitzender der Rambouillet-Konferenz niemals hingenommen. Der »Annex B« habe ohnehin bei den Verhandlungen »nicht eine Millionstel Sekunde eine Rolle gespielt«, da Jugoslawiens Präsident Slobodan Milosevic ihm - Fischer - klipp und klar gesagt habe: »Es kommt kein fremder Soldat auf heilige serbische Erde.« In dem Annex B des Rambouillet-Abkommens sollten nach Angaben Fischers militärisch-technische Bestimmungen getroffen werden. Man sei aber bei den Verhandlungen mit den Serben nicht so weit gewesen, »daß wir auf militärischer Ebene darüber gesprochen hätten«.
Fischers Sprecher Andreas Michaelis erklärte dazu ergänzend, die in dem Annex B enthaltenen Bestimmungen entsprächen Formulierungen, wie sie auch in anderen Fällen bei der Stationierung von Streitkräften in einem anderen Land verwendet worden seien. Als Beispiel nannte er Abmachungen für den Transit der SFOR-Truppen, die den Frieden in Bosnien sichern sollen, durch Jugoslawien und andere angrenzende Staaten. Michaelis räumte auf Fragen von Journalisten ein, bei der Passage in dem Vertragsentwurf könne es sich um eine »anspruchsvollere Anfangsformulierung« gehandelt haben. Er versicherte, der Text wäre verhandelbar gewesen, die serbische Seite habe aber ein Gespräch darüber rundweg abgelehnt. Der Außenamtssprecher wies zugleich den Vorwurf der Geheimhaltung des Abkommens durch die Bundesregierung als »balkanische Legendenbildung« zurück, die völlig gegenstandslos sei. Minister Fischer habe am 24. Februar dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, dem SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose, den Vertragsentwurf mit allen Anlagen übergeben, um auf diese Weise den Auswärtigen Ausschuß zu informieren, was nichts anderes beweist, daß einige andere führende Parlamentarier in die hinterhältige Inszenierung des Krieges eingeweiht waren. Doch offensichtlich haben nicht einmal enge Vertraute Fischers im Auswärtigen Amt, so etwa der grüne Ludger Volmer oder der Sozialdemokrat Günter Verheugen, volle Kenntnis von dem Vertragsentwurf gehabt. Mit österreichischer Gemütlichkeit äußerte sich der Diplomat Wolfgang Petritsch, in Rambouillet einer der drei Unterhändler der »internationalen Gemeinschaft«, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung zu dem Problem des Vertragsentwurfs:
SZ: War Rambouillet für die Serben eine Falle, war also das Abkommen für Belgrad unannehmbar wegen der weitreichenden militärischen Freiheiten für die NATO in ganz Jugoslawien?
Petritsch: »Was über die Bewegungsfreiheit der NATO im Anhang steht, ist sozusagen nur der Entwurf gewesen, in den man halt alles hineinschreibt, was man sich wünscht. Da die jugoslawische Seite sich strikt geweigert hat, darüber überhaupt zu reden, blieb das unverändert. Aber es ist ganz klar gewesen, daß sich in einem Kosovo-Abkommen an alle relevanten Aspekte nur auf den Kosovo beziehen können.«
SZ: Es hätte also bei diesen Punkten Verhandlungsspielraum gegeben?
»Ja, absolut. Da war natürlich die Flexibilität sehr groß. Es war uns vollkommen klar, daß  sich ein souveränes Land mit diesen Bestimmungen amschwersten tut.«
SZ: Warum ist überhaupt gefordert worden, daß sich die NATO-Truppen in ganz Jugoslawien und nicht nur im Kosovo frei bewegen dürfen?
»Das war so nicht gemeint. Das hätte ja dem Geist des Vertrages und auch dem Geist von Rambouillet absolut widersprochen. Es ging um die Frage, wie kommen wir in den Kosovo hinein, also um die Durchfahrt durch serbisches oder auch montenegrinisches Gebiet.« Soweit das Interview. Ähnlich äußerte sich der grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin in einer Talkshow als Gast von Erich Böhme und dem ehemaligen sächsischen Innenminister Heinz Eggert auf n-tv. Der Vertragsentwurf sei doch verhandelbar gewesen, Milosevic habe aber nicht verhandeln wollen. Dann aber habe es keine andere Wahl gegeben. Die verteidigungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Angelika Beer, fordert nun die NATO zu einer Waffenruhe auf. Es müßten neue Friedensverhandlungen mit Belgrad geführt werden, erklärte sie. Es bleiben nur zwei Fragen: Wer trägt die Verantwortung für das zwischenzeitlich - wohl versehentlich - zerstörte Jugoslawien und vor welches Kriegsverbrechertribunal die heuchelnden Akteure, die die Menschheit trickreich an den Abgrund des Dritten Weltkrieges geführt haben, gestellt werden können?