Neue Zürcher Zeitung 14.04.1999

Härtere Haltung der Türkei in der Kosovo-Frage
Einmarsch türkischer Truppen in den Nordirak

Ankara hat seinen vorsichtigen Kurs in der Kosovo-Frage aufgegeben und spricht nun von einem Völkermord. Gleichzeitig marschierten am Wochenende türkische Soldaten erneut in den Nordirak ein, um die kurdische PKK-Guerilla zu bekämpfen. Noch werden Parallelen zwischen dem Vorgehen Ankaras und Belgrads gegen ihre jeweiligen «Separatisten» in der Türkei als unhaltbar zurückgewiesen.
it. Istanbul, 13. April

Der türkische Aussenminister Ismail Cem hat während der Nato-Konferenz in Brüssel von seinen Amtskollegen eine grössere Rolle für die Türkei und für Griechenland bei der Bewältigung der Jugoslawien-Krise gefordert. Die zwei Länder seien die einzigen Nato-Mitgliedstaaten auf dem Balkan und würden wegen der Jugoslawien-Krise mit langfristigen Gefahren konfrontiert, erklärte er am Dienstag mit sichtlichem Unmut. Die Türkei verfüge zudem über eine 500jährige Erfahrung in der Kosovo-Frage, was einer Lösung wohl dienlich sein könnte.

Kapitulation Belgrads gefordert
Die Forderung des Aussenministers Cem spiegelt mittlerweile eine Grundstimmung in der Türkei. Nach dem Zusammenbruch der alten Weltordnung wächst die Überzeugung, dass die Türkei als einstige Hegemonialmacht des Balkans während 500 Jahren und nun als aufkommende Regionalmacht mehr Einfluss auf das dortige Geschehen haben müsste. Ankara bezeichnet den Schutz der muslimischen Bevölkerung auf dem Balkan neuerdings als seine moralische Pflicht. In diesem Rahmen hat der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel letztes Wochenende die albanischen Flüchtlingslager in Mazedonien und in Albanien besucht. Dort sprach er als erster türkischer Politiker von einem Völkermord in Kosovo und erklärte, der jugoslawische Präsident Milosevic gehöre vor ein Kriegsverbrechertribunal. Die harschen Töne Demirels markieren eine deutliche Wende in Ankaras Jugoslawien-Politik. Der Regierungschef Bülent Ecevit hatte anfänglich einen vorsichtigen Kurs eingeschlagen und immer wieder unterstrichen, dass die territoriale Integrität Jugoslawiens auch in der Kosovo-Frage bewahrt werden müsse. Solche Aussagen sind nun nach Beginn des Luftkriegs gegen Jugoslawien nicht mehr zu hören. Regierung wie Opposition betrachten einen Einsatz von Bodentruppen als unausweichlich für eine Lösung der Kosovo-Frage und kümmern sich wenig um die Souveränität Jugoslawiens. Was in Ankara mittlerweile als akzeptable Lösung der Kosovo-Krise betrachtet wird, umschrieb unlängst Sükrü Eledag mit der bedingungslosen Kapitulation Belgrads. Der ehemalige Botschafter Eledag ist sowohl in Kreisen der Politik als auch der türkischen Armee zu Hause.
Während Staatspräsident Demirel in Albanien die unmenschlichen Aktionen der jugoslawischen Streitkräfte anprangerte, marschierten Tausende von türkischen Soldaten erneut in den Nordirak ein, um die kurdische Guerilla zu bekämpfen. Laut offiziellen Erklärungen sind letztes Wochenende rund 5000 türkische Soldaten mit amerikanischen Cobra-Kampfhelikoptern und Kampfflugzeugen in das nordirakische Gebiet vorgedrungen. Bei den Kämpfen sollen dabei mehrere Dutzende PKK-Mitglieder sowie acht Soldaten getötet worden sein. Der Kampf der türkischen Armee im Nordirak werde so lange anhalten, bis sie ihr Ziel erreicht habe, teilte ein Offizier der Presse mit - in einem Wortlaut, der sich kaum vom Vokabular der jugoslawischen Streitkräfte unterscheidet.
Was im Nordirak oder im kurdischen Südosten der Türkei wirklich vor sich geht, ist kaum auszumachen. Ankara hat die Presse aus dieser Region verbannt, genauso wie Belgrad Journalisten aus Kosovo vertrieben hat. Wie früher jugoslawische Friedensaktivisten, so wurden am letzten Freitag 114 türkische Intellektuelle zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt, weil sie mit einer Deklaration im Jahre 1993 für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage plädiert hatten.

Ablehnung jeglicher Parallelen
Versuche, zwischen den serbischen Angriffen gegen die Kosovo-Albaner und den türkischen Militäraktionen gegen die Kurden Parallelen zu ziehen, weist der türkische Präsident Demirel als unhaltbar zurück. Es sei, als vergliche man einen Elefanten mit einem Fisch, sagte er vor kurzem. Die Meinung, dass Kosovo mit dem kurdischen Südostanatolien nicht zu vergleichen sei, teilt auch die überwältigende Mehrheit der türkischen Bevölkerung. Dass rund 4000 kurdische Dörfer zwangsevakuiert wurden und dass den zwölf Millionen Kurden die Ausbildung in kurdischer Sprache noch immer untersagt wird, führen türkische Politiker jeglicher Couleur auf den «unitären Charakter» der Republik zurück. Nur wenige, beispielsweise das renommierte politische Magazin «Briefing», warnen vor einer neuen «unerträglichen Arroganz» der Türkei. Dieses kritisiert, türkische Politiker seien davon überzeugt, dass die geostrategische Bedeutung der Türkei nach der Auflösung der Sowjetunion ihr Land für Washington unentbehrlich mache. Die Türkei könne sich daher alles leisten, ohne eine Strafe wegen ihres nach wie vor traurigen Umgangs mit den Menschenrechten befürchten zu müssen.

Festnahme von Demonstranten
Ankara, 13. April. (dpa) 300 Anhänger der pro- kurdischen Demokratie-Partei des Volkes (Hadep) sind bei dem Versuch festgenommen worden, an einer Wahlkundgebung in der südöstlichen türkischen Stadt Diyarbakir teilzunehmen. Wie die Nachrichtenagentur Anadolu am Dienstag berichtete, hatte der Gouverneur der Stadt die Hadep-Demonstration nicht genehmigt. Die 300 Parteianhänger seien am Montag festgenommen worden, als sie versuchten, sich den Demonstranten anzuschliessen. Gegen die im Juni 1993 als Nachfolgerin von zwei verbotenen Parteien gegründete Hadep läuft gegenwärtig vor dem Verfassungsgericht ein Verfahren. Die Richter wollen in Kürze entscheiden, ob die Partei an den Parlaments- und Kommunalwahlen am 18. April teilnehmen darf.