Frankfurter Rundschau 13.4.99

Kandidaten-Kür ist Chefsache Im Blickpunkt: Wahlen in der Türkei

Von Gerd Höhler (Ankara)
Rund 11 000 Kandidaten bewerben sich bei der türkischen Parlamentswahl am kommenden Sonntag um die 550 Sitze in der Großen Nationalversammlung. Wer antreten darf, bestimmen die Parteiführer praktisch im Alleingang.
Wie die Aspiranten für das nächste Parlament ausgewählt wurden, wirft ein bezeichnendes Licht auf die politische Kultur in der Türkei. Nur bei der „Partei für Freiheit und Solidarität“ (ODP) ging es demokratisch zu: In freier Abstimmung entschieden die Parteimitglieder auf regionaler Ebene über die Aufstellung der Kandidatenlisten. Doch dies dürfte eine vergebliche Übung gewesen sein. Daß die ODP die Zehnprozenthürde nimmt, was Voraussetzung für ihren Einzug in das Parlament wäre, gilt als ausgeschlossen.
Die anderen Parteien überließen die Auswahl der Kandidaten ihren Vorsitzenden. Zwar veranstalteten einige, wie die konservative Partei des Wahren Weges (DYP) und die Mutterlandspartei (Anap) Abstimmungen, mit denen die Parteibasis Kandidaten nominieren konnte. Doch das waren nur unverbindliche Empfehlungen. So plazierte Anap-Chef und Ex-Premier Mesut Yilmaz seine beiden engsten Berater Cavit Kavak und Günes Taner ganz oben auf den Kandidatenlisten, obwohl beide bei der Basis durchgefallen waren. Einen aussichtsreichen Listenplatz bekam auch Yildiz Batirbaygil. Er ist der Zahnarzt von Yilmaz-Ehefrau Berna.
Auch die frühere Ministerpräsidentin und DYP-Vorsitzende Tansu Ciller ließ sich von der Parteibasis nicht reinreden. Bei der Parlamentswahl im Dezember 1995 hatte sie hochrangige Polizei- und Armeeoffiziere in die Nationalversammlung gehievt, um sich bei den Militärs und beim Sicherheitsapparat abzusichern. Jetzt protegiert die mit schwerwiegenden Korruptionsvorwürfen konfrontierte Politikerin ihre Anwälte: Sevgi Esen, Atilla Özer und Ömer Asim Livanelioglu bekamen aussichtsreiche Listenplätze.
Kontroversen gab es bei der Kandidatenkür in der islamistischen Tugend-Partei (FP). Hinter den Kulissen zog Necmettin Erbakan die Fäden, der 1998 vom türkischen Verfassungsgericht zu fünfjähriger politischer Enthaltsamkeit verurteilte Chef der zwangsaufgelösten religiösen Wohlfahrtspartei. Als deren Nachfolgeorganisation gilt die FP. Erbakans Anspruch, die Regie in der FP zu führen, hat der Partei, die im scheidenden Parlament die stärkste Fraktion stellt, eine schwere Zerreißprobe beschert. Die Flügelkämpfe zwischen den Erbakan-Gefolgsleuten und den gemäßigteren Kräften drohen die Hoffnung der FP zu vereiteln, am Sonntag wieder stärkste Partei zu werden.
Die Rolle des Wahlsiegers könnte den Islamisten vom amtierenden Ministerpräsidenten Bülent Ecevit und seiner Partei der Demokratischen Linken (DSP) streitig gemacht werden. Ecevit sonnt sich vor allem im Erfolg der Festnahme des PKK-Chefs Abdullah Öcalan, des türkischen „Staatsfeindes Nummer 1“. Der 73jährige Ecevit gilt überdies als absolut integer. Mit Korruptionsvorwürfen ist er nie konfrontiert gewesen. Kein anderer türkischer Spitzenpolitiker kann das von sich sagen. Mit der innerparteilichen Demokratie hapert es allerdings auch in Ecevits DSP. Die Kandidatenliste ließ der Premier von seiner Frau Rahsan aufstellen. Zwölf Minuten benötigte Ecevit, um die Namen der Auserwählten vor den Parteigremien aufzusagen. Widerspruch gab es nicht, die Listen wurden genehmigt.