Süddeutsche Zeitung 10.04.99

Eine Woche vor den Parlamentswahlen
Türkische Unternehmer stellen Forderungen an Politiker

Mächtiger Wirtschaftsverband will mehr Bürgerrechte und ein Ende des Konfliktes in den Kurdengebieten
ky. Istanbul (Eigener Bericht) – Gut eine Woche vor den Parlamentswahlen in der Türkei hat der einflußreiche Unternehmerverband des Landes einen Katalog von Forderungen nach umfassenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen vorgelegt. Das neue Parlament und die künftige Regierung sollen sich nach den Vorstellungen des Vorstandes des Industriellenverbandes TÜSIAD unter anderem vorrangig mit dem Ende des Konfliktes in den Kurdengebieten im Südosten, mit der Verbesserung der Bürgerrechte und der Schaffung größerer Transparenz im politischen System befassen.
So fordert TÜSIAD eine Abänderung des berüchtigten Anti-Terror-Gesetzes mit dem Ziel, die Meinungsfreiheit zu schützen. Der relativ vage gefaßte Paragraph 8 dieses Gesetzes ahndet jede „Aufwiegelung“ des Volkes aus „rassischen, religiösen oder nationalen Gründen“ mit Haftstrafen. Zahlreiche Journalisten, Schriftsteller und Bürgerrechtler wurden bereits nach diesem Gesetz von den Staatssicherheitsgerichten verurteilt. Auch diese Gerichte sollen nach dem Willen der türkischen Unternehmer reformiert werden. So soll ihr bislang umfassender Zuständigkeitsbereich entscheidend beschnitten werden. Außerdem soll ihnen in Zukunft kein Militärrichter mehr angehören. Mit dieser Forderung befindet sich TÜSIAD in Übereinstimmung mit vielen Politikern der meisten im Parlament vertretenen Parteien.
Großen Wert legen die Industriellen auf eine Reform des politischen Systems. Sie sind seit langem über die Parteien- und Politikverdrossenheit der türkischen Öffentlichkeit beunruhigt. Deshalb regen sie nun an, die Immunität der Parlamentsabgeordneten zu beschränken und gleichzeitig die innere Demokratie in den meist autoritär geführten Parteien gesetzlich zu verankern. Darüberhinaus wünscht TÜSIAD eine Stärkung lokaler Verwaltungen. Sie sollen das Recht erhalten, eigenständig Abgaben zu erheben. Bislang erhalten Provinzen und Städte Gelder von der Zentralregierung zugeteilt.
Vor drei Jahren legte der Verband erstmals einen aufsehenerregenden Bericht über die Lage im Kriegsgebiet im Südosten des Landes vor. Auch jetzt räumte TÜSIAD dieser Frage großen Raum ein. So soll nach seinen Vorstellungen das neugewählte Parlament umgehend ein „Reuegesetz“ verabschieden, das reumütigen Kämpfern der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) Straffreiheit zusichert.
Parallel dazu soll ein umfassendes Wirtschafts- und Sozialprogramm für die Provinzen der Ost- und Südost-Türkei anlaufen. Dafür müssen nach Überzeugung des Unternehmerverbandes mindestens eine Milliarde Euro (knapp zwei Milliarden Mark) in diese Regionen fließen.