Frankfurter Rundschau 7.4.99

Wenn KD Niewind ermittelt
Die Berliner Polizeibehörden gehen rigoros gegen juristische und ärztliche Berater von Asylbewerbern vor

Von Ullrich Fichtner (Berlin)
Die Ereigniskette einer Abschiebung hat die immergleichen Glieder. Sie beginnt, wenn es einen Mann, ein Kind, eine Familie aus tausenderlei Gründen in die Fremde verschlägt, die sie über tausend legale und illegale Trampelpfade der weltweiten Wanderung erreichen. In der Fremde, in Deutschland, beginnen bald die „Verfahren“: Zuerst der Asylantrag, der meist binnen Monatsfrist ablehnend beschieden wird, stereotyp, im trockenen Ton des Formulars. Oft folgen weitere Anträge auf Asyl, irgendwann bleibt nur noch ein Antrag auf Duldung, der irgendwann im Geschäftsgang der Behörden versickert. Ein, zwei, drei Jahre nach dem ersten Asylantrag verdichten sich die Ereignisse, das heißt: Sie beginnen, sich dramatisch zu überstürzen.
Polizei, Zugriff, Abschiebehaft, die manchmal Monate dauert, manchmal nur Wochen, dann steht der Tag der erzwungenen Ausreise fest. Er ist zugleich der Tag der Gerichte. In wenigen Stunden spielt sich das Folgende ab: Ein Anwalt zieht gegen die Abschiebung vor das Verwaltungsgericht, das Gericht lehnt den Antrag fast immer ab. Der Anwalt zieht weiter zum Oberverwaltungsgericht, das Gericht lehnt den Antrag fast immer ab. Unter der letzten Entscheidung steht der Satz: „Dieser Beschluß ist unanfechtbar.“ Rasend schnell geht das alles vonstatten, verhandelt wird per Telefon und Fax, auf den Blättern steht, hastig hingeschmiert: „Eilt!“, „Bitte sofort vorlegen!“. Und sofort nach dem letzten Verfahrensschritt sitzt der „Schübling“ im Flugzeug, kehrt zurück in die Heimat, die keine mehr ist.
Auch der kurdische Junge Burhan S. durchlief diese Verfahren. 14 oder 15 Jahre alt war er, als er in Berlin auftauchte und erzählte, seine Mutter sei tot, sein Vater sitze in der Türkei im Gefängnis. Mit 16 schon kannte er zwei Berliner Abschiebegefängnisse von innen und bald darauf strandete er wieder in der Türkei. Heute, da er eben 17 geworden ist, verliert sich seine Spur. Man weiß noch, daß er im vergangenen Sommer, nach der Ankunft in Izmir, als „Notfall“ in ein Krankenhaus kam, man weiß, daß er verlegt wurde in eine psychiatrische Klinik in der Nachbarstadt Manisa. Seitdem weiß man nichts mehr und will auch nichts wissen. Der Fall Burhan S. ist erledigt. So steht es jedenfalls auf die Akten gestempelt, die die Behörden über ihn anlegten.
Ein Einzelfall, wie immer. Betreut von einzelnen Helfern, von Anwalt Andreas Günzler, vom Arzt Eberhard Vorbrodt, von Leuten des Berliner Flüchtlingsrats, von anderen kleinen Initiativen, deren beharrliche Knochenarbeit darauf zielt, daß kein Mensch als illegal empfunden und erledigt wird. Sand in einem Getriebe wollen sie sein, das allzu gut geölt menschliche Schicksale abfertigt, die Ruhe eines routinierten Geschäftsgangs wollen sie stören. Derzeit wird in Berlin der Beweis erbracht, daß ihnen das ganz gut zu gelingen scheint: Die Behörden fühlen sich gestört. Deshalb haben sie nach Burhan S.s Abschiebung die Amtsschimmel gesattelt und reiten gegen die Menschenfreunde an. Prompt haben sie sich dabei in einen „Fall Vorbrodt/Günzler“ vergaloppiert.
Der Arzt - Vorbrodt - und der Anwalt - Günzler - besuchten Burhan S.  am Tag seiner Abschiebung in der Zelle. Am Gefängnistor hatte Günzler Vorbrodt als seinen Mitarbeiter vorgestellt, beide hatten sich die üblichen Besucherschilder mit dem Aufdruck „Rechtsanwalt“ angesteckt - und sie fanden den jungen Kurden in jämmerlichem Zustand vor. Apathisch, regungslos stand er im Türrahmen zum Naßraum seiner Zelle. Anwalt und Arzt schien er nicht zu erkennen, minutenlang „verharrte er in völliger Körperstarre“, sein Leib war übersät mit Kratzspuren und blauen Flecken.
Eberhard Vorbrodt beobachtete dies und kam als Arzt zu dem Schluß, Burhan S. sei offenkundig psychisch erkrankt und suizidgefährdet; er bedürfe dringend stationärer Hilfe; er sei nicht haftfähig; seine Reisefähigkeit sei „absolut zu verneinen“. Vorbrodt schickte Kopien dieses Berichts an die Innenverwaltung, die Ausländerbehörde, den polizeiärztlichen Dienst, die Ärztekammer, es half nichts. Das Verwaltungsgericht glaubte seiner Schilderung nicht und folgte statt dessen der dreizeiligen Expertise eines Polizeiarztes, der kein Wort der Begründung verlor. Burhan S. wurde abgeschoben. Und Eberhard Vorbrodt bekam bald überraschende Post.
Per Formblatt wurde ihm mit Datum vom 4. 9. 1998 von der Polizei mitgeteilt, daß gegen ihn wegen „Hausfriedensbruchs und Amtsanmaßung“ ermittelt werde. Tatzeit: der Tag von Burhan S.s Abschiebung, Tatort: das Abschiebegefängnis. Es ging wohl um das Schildchen „Rechtsanwalt“. Mit Datum vom 12. 10. 1998 schrieb die Polizei, daß ihm für die Abschiebegefängnisse Köpenick und Tiergarten Hausverbot erteilt werde und ihm im Fall der Zuwiderhandlung „unmittelbarer Zwang“ drohe. Am gleichen Tag erhielt auch die Ärztekammer Post von der Polizei mit der Aufforderung, sie möge ihr Mitglied Eberhard Vorbrodt mit „standesrechtlichen Sanktionen“ doch bitte endlich zur Ruhe bringen. Und auch die Anwaltskammer bekam ein Beschwerdeschreiben des Polizeipräsidiums, in dem Schritte gegen den unbotmäßigen Anwalt Günzler gefordert wurden.
In der Regel unterzeichnete, hochachtungsvoll, „KD Niewind“ diese Briefe, ein Kriminaldirektor, der offenkundig Spaß an der Sprache hat. Das Hausverbot gegen Vorbrodt begründete er, lustvoll fast, auf drei eng beschriebenen Sei- ten. Vorbrodt habe sich des „konspirativen Einschleichens“ schuldig gemacht, habe sich - das ist als Vorwurf zu verstehen - bemüht, eine Abschiebung zu verhindern, habe in diesem Bemühen - das wird gleich mehrfach moniert - „verantwortliche Persönlichkeiten des öffentlichen Dienstes“ behelligt und habe, kurzgefaßt, am Tag der „Tat“ „eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ dargestellt.
Aber damit nicht genug. Der Kriminaldirektor schreibt weiter: „Es ist amtsbekannt, daß Sie sich als Arzt in dem sogenannten Flüchtlingsrat Berlin als Sprecher der Arbeitsgruppe Medizin und Soziales gerieren.“ „Gerieren“? „Sogenannter“ Flüchtlingsrat, immerhin ausgezeichnet mit dem Heinemann-Bürgerpreis. KD Niewind versteigt sich. Er findet, daß es „keiner weiteren Erörterung“ bedürfe, „inwieweit Sie als ehemals praktizierender Arzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe zu einer ernsthaften Stellungnahme . . . medizinisch befähigt sind“. Und: Die „Zwangsmittelandrohung“ sei nötig, „um jeden Versuch Ihrerseits, sich wiederum unter einer Legende einzuschleichen, zu unterbinden“. Niewind schreibt noch andere Sachen, versteckte Gemeinheiten, setzt Anführungszeichen, wo keine hingehören, und Provokationen, die ihm nicht zustehen; er giftet, im Namen des Polizeipräsidenten.
Eberhard Vorbrodt legt gegen die Briefe und Anordnungen Widerspruch ein. Die Ermittlungsverfahren, alle Ermittlungsverfahren werden eingestellt.  Kein Hausfriedensbruch, keine Amtsanmaßung, kein Mißbrauch von Titeln. Die Staatsanwaltschaft findet die Vorwürfe lachhaft. Das Hausverbot für die Abschiebegefängnisse besteht indes noch immer.  Ausgefertigt von KD Niewind, inzwischen auf dem Schreibtisch des Innensenators gelandet. Seine Sprecherin Isabelle Kalbitzer sagt, „das Hausverbot bleibt bis auf weiteres bestehen“. Und sie sagt: „Das ist alles, was ich Ihnen im Moment dazu sagen kann.“ Der Rest ist Verschweigen.