Frankfurter Rundschau 7.4.99

Die Kurdin A. - dreimal in Haft und immer wieder vergewaltigt
Ein Istanbuler Rechtshilfebüro setzt sich für Frauen ein, die von Polizisten und Soldaten sexuell mißbraucht wurden
Von Dieter Balle (Istanbul)

Eren Keskin ist eine mutige Frau. Die 39jährige Rechtsanwältin ist als Vize-Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins IHD schon länger Morddrohungen ausgesetzt - vor allem jetzt, da sie die Verteidigung von PKK-Chef Abdullah Öcalan mit übernommen hat.  Vor eineinhalb Jahren gründete sie ein Rechtshilfebüro für von Polizei- und Armeeangehörigen sexuell mißhandelte Frauen.
Nur wer die oft willkürlich ausgeübte Macht türkischer Polizisten und Militärs kenne, könne ermessen, was es bedeute, ihre Verbrechen vor Gericht zu bringen, heißt es in Menschenrechtskreisen. Genau das versucht Eren Keskin gemeinsam mit ihrer Berliner Kollegin Jutta Hermanns in zwei kleinen Büroräumen ohne Türschild im Istanbuler Touristenviertel Sultanahmed, unweit der Blauen Moschee. Seit August 1997 haben sie hier 90 Schicksale mißbrauchter Frauen aufgenommen und in den meisten Fällen Anzeige erstattet.
Bei einem Drittel der Fälle handelt es sich um Vergewaltigungen, bei nahezu zwei Dritteln um sexuelle Folter und Mißhandlungen anderer Art.  Dies sei eine Methode der Kriegsführung, sagt Hermanns. Immer sei auch die Zerstörung der weiblichen Identität beabsichtigt. Dabei seien die Frauen oft nicht einmal selbst angeklagt: Man wolle durch die sexuelle Mißhandlung der Frauen und Mädchen, oft in Anwesenheit der Männer, nicht selten ihre Verwandten oder Freunde „zum Sprechen bringen“.
In bisher 77 der dokumentierten Fälle waren die Täter Polizisten. Die Tatorte sind Gendarmerie- und Polizeistationen sowie Gefängnisse im ganzen Land. Mehr als zwei Drittel der betroffenen Frauen waren Kurdinnen. Leider aber, so bedauert Hermanns, sei es bislang nicht gelungen, eine Zweigstelle des Rechtshilfebüros in der Kurdenmetropole Dyarbakir zu eröffnen.
Wie berechtigt die Angst der Frauen ist, zeigt der Fall der Kurdin Meral A.  Als 17jährige 1994 in Dyarbakir festgenommen, wurde sie in Polizeihaft schwer gefoltert und von Polizisten vergewaltigt. Lange Zeit konnte sie mit niemandem über das Erlebte sprechen. Drei Jahre später wurde sie in Istanbul erneut festgenommen und gefoltert. Dann kam sie zum Rechtshilfebüro und erstattete Anzeige, berichtet Jutta Hermanns. Sie wollte die Türkei verlassen, sei aber kurz vor der Ausreise in Istanbul erneut verhaftet worden. Sieben Tage lang sei sie als unregistrierte Gefangene mit verbundenen Augen festgehalten und jeden Tag vergewaltigt worden. Jetzt befinde sie sich im Ausland.
Die türkische Staatsanwaltschaft indes stellte trotz der Anzeige des Rechtshilfe-Projekts das Verfahren ein - eine Erfahrung, die Eren Keskin und ihre Kolleginnen häufig machen.
Daß die türkische Justiz jedoch auch bei Fällen mit klarer Beweislage Freisprüche erläßt, zeigt laut Jutta Hermanns das Schicksal von Sükran A., einer von bislang sechs Fällen, die das Istanbuler Rechtshilfebüro bis vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof brachte. Dort wurde die Türkei rechtskräftig verurteilt. Doch das hinderte das Strafgericht im kurdischen Mardin nicht, den wegen Vergewaltigung angeklagten Gendarmerie-Offizier freizusprechen. „Die rechtlichen Regelungen in diesem Land haben nur für eine mit Gewaltbefugnissen ausgestattete Minderheit Geltung“, umschreibt Eren Keskin ihre Erfahrungen mit der türkischen Justiz.
Gelingt ihnen die Flucht in Ausland, haben die Frauen oft neue Probleme bei der Asylantragstellung und der Anhörung. Diese birgt nämlich, so die Erfahrung Jutta Hermanns’, „unendlich viele Situationen der Retraumatisierung und Demütigung“. Die meisten Frauen erlebten dabei ihre Foltersituation in der Erinnerung erneut. Eine sorgfältige Vorbereitung solcher Anhörungen zusammen mit Vertrauensanwältinnen und -dolmetscherinnen sei deshalb unerläßlich, fordern die beiden Anwältinnen.