junge Welt 06.04.1999

Will türkische Regierung Bodentruppen nach Kosovo schicken?
jW sprach mit Alexander Kauz, Mitarbeiter des Rüstungs- Informationsbüros Baden-Württemberg

F: Sie sind vor wenigen Tagen aus der Türkei zurückgekehrt, wo Sie im Auftrag der bündnisgrünen Bundestagsfraktion waren. Wie beurteilen Sie die Situation in den kurdischen Gebieten?
Meine Gesprächspartner vermittelten mir ein Bild, das ich von früheren Aufenthalten in den kurdischen Gebieten kannte. Die türkischen Sicherheitskräfte gehen weiter mit aller Brutalität gegen die Kurdinnen und Kurden vor, die für ihr Volk die Stimme erheben. Die nach der Verhaftung Öcalans von Ministerpräsident Ecevit angekündigten Verbesserungen bleiben eine propagandistische Farce. Vertretern der prokurdischen Parteien HADEP und BDP ist es unmöglich, Wahlkampf zu führen: Wahlkampfveranstaltungen im Südosten des Landes werden von den Sicherheitskräften aufgelöst, Teilnehmer wahllos verhaftet. Von Istanbul bis in die Städte des Südostens wurden kurdische Aktivisten zu Tausenden verhaftet. Newroz-Kundgebungen wurden mit aller Gewalt, bis hin zum Schußwaffengebrauch, im Keime erstickt. Daß eine von der Staatsführung angekündigte Versöhnung mit den Kurden nicht eingesetzt hat, sondern genau das Gegenteil zu beklagen ist, zeigt folgende Tatsache: Im ganzen Land waren Plakate mit dem in Handschellen vor der türkischen Fahne stehenden Öcalan aufgehängt - eine pure Provokation der türkischen Staatsführung.

F: Wie sieht es mit dem inzwischen auch von der rot- grünen BRD-Regierung abgestrittenen, vertragswidrigen Einsatz deutscher Waffen in den kurdischen Gebieten aus?
Ich wurde am Militärkontrollpunkt zwischen Maden und Ergani, nordwestlich der kurdischen Großstadt Diyarbakir, von Sicherheitskräften festgesetzt. Dort fielen mir die vergangenes Jahr neu gelieferten Daimler-Benz-Militärunimogs auf. Außerdem sah ich die aus der Bundesrepublik so zahlreich gelieferten Kalaschnikow- Schnellfeuergewehre und die in Lizenz gebauten NATO-G3- Gewehre von Heckler & Koch. Im Gendarmerieposten Ergasi konnte ich dann noch zwei der bekannten BTR 60- Schützenpanzer sehen. Niemand in der deutschen Regierung sollte behaupten, daß diese Waffen nicht eingesetzt werden; damit würden Schröder und Fischer nur die Lügen der Vorgängerregierung wiederholen. Einer meiner Gesprächspartner sagte: »Wir wissen, daß Ecevit schamlos lügt. Und ihr wißt es auch. Nur gelten bei euch andere Interessen: Deshalb wollt ihr nicht wahrnehmen, daß diese Waffen uns tagtäglich bedrohten. Das Wichtigste, was ihr in Deutschland für uns machen könnt, ist zu verhindern, daß weiter Waffen geliefert werden. Sonst erwarten wir von der deutschen Regierung nichts«.

F: Sehen Sie im Moment Wege zu einer politischen Lösung des Konflikts?
Leider nur wenige. Egal, wer in der Türkei nach den Wahlen Ende April die neue Regierung bildet - Veränderungen könnten nur mittels politischen Drucks seitens der Europäer erreicht werden. Doch die Europäer haben gegenüber der Türkei keine einheitliche Linie. Die partiellen Interessen sprechen dagegen, sich auf eine konsequente Menschenrechtspolitik zu verständigen. Zuallererst müßten die Europäer Kurden als Konfliktpartei,
als eine legitime Konfliktpartei, anerkennen. Davon sind wir heute meilenweit entfernt. Auch steht der augenblickliche Krieg im Kosovo jeglicher politischen Initiative für Kurden im Wege. Und die Türkei ist viel stärker, als es hierzulande wahrgenommen wird, in diesen Krieg involviert. Während meines ganzen Aufenthaltes wurde von offizieller Seite über die Dringlichkeit, türkische Bodentruppen in das Kosovo zu entsenden, diskutiert. Die türkische Generalität fiebert geradezu einem Waffengang entgegen.

F: Die kurdische Bevölkerung ist damit konfrontiert, daß die NATO im Kosovo unter dem Hinweis eingreift, es müsse eine humanitäre Katastrophe verhindert beziehungsweise unterbunden werden, während seit 15 Jahren in Kurdistan ein Krieg tobt, in dessen Folge mehrere tausend Dörfer vom türkischen Militär niedergebrannt und zerstört wurden, nach Schätzungen über drei Millionen Menschen zu Flüchtlingen geworden sind, ohne daß hier ernsthaft von außen eingegriffen wurde - es sei denn in konfliktanheizender Weise, indem sogar die türkische Seite in den letzten Jahren von den NATO-Partnern USA und Deutschland massiv ausgerüstet wurde? Haben sich Ihre Gesprächspartner dazu geäußert?
Jede Kurdin, jeder Kurde, die ich in den zurückliegenden Tagen gesprochen habe, stellte mir die Frage: »Warum Kosovo und nicht wir?« Die Kurdinnen und Kurden nehmen sehr schmerzhaft zur Kenntnis, daß die von der NATO propagandistisch hervorgehobenen Menschenrechte für sie scheinbar keine Gültigkeit besitzen. Die Menschen sind enttäuscht, wütend und begreifen diese Schizophrenie in der Politik der NATO-Länder kaum. Allerdings nannten die Parteivertreter in den Gesprächen ganz klar die geostrategischen Interessen der NATO, die einer Unterstützung ihres berechtigten Anliegens im Wege stehen. Für die Kurden macht sich die NATO im doppelten Sinne unglaubwürdig. Es ist verständlich, daß sie keine Sympathie für dieses überkommene und aggressive Militärbündnis haben.
Interview: Thomas W. Klein