Neue Zürcher Zeitung03.04.1999

Ankaras Dilemma in der Kosovo-Frage
Wachsende Sorge vor einem Präzedenzfall

Die türkischen Politiker unterstützen die Luftangriffe der Nato gegen Jugoslawien. In der Regierung Ecevit macht sich aber zunehmend die Angst vor einem Präzedenzfall Kosovo bemerkbar, sollte der serbischen Provinz als Folge der Kampfhandlungen doch noch die Unabhängigkeit gewährt werden.

it. Istanbul, 2. April
Die humanitäre Tragödie in Kosovo und die anhaltende Flüchtlingswelle haben in der türkischen Öffentlichkeit Bestürzung hervorgerufen. «Gestern war es Bosnien, heute ist es Kosovo. Wie lange soll die ethnische Säuberung denn noch hingenommen werden?» empörte sich am Donnerstag das Massenblatt «Sabah». Seit Beginn des Nato-Einsatzes gegen Jugoslawien sind über 4500 Kosovo-Albaner in die Türkei geflüchtet. Es sind hauptsächlich Personen türkischen Ursprungs, von denen rund 20 000 in Kosovo leben. Der Grossteil dieser Flüchtlinge ist bei Verwandten untergekommen. Ankara bereitet sich mittlerweile auf einen weit grösseren Strom muslimischer Flüchtlinge vor. Betroffen vom Schicksal der vertriebenen Muslime aus Kosovo sind neben der Öffentlichkeit auch die Politiker, die nach wie vor geschlossen hinter den Luftangriffen der Nato gegen das «christlich-orthodoxe» Jugoslawien stehen. Der türkische Aussenminister Cem begründete unlängst die Hintergründe dieser geschlossenen Front damit, dass die Türkei mit den Muslimen auf dem Balkan neben der gemeinsamen Religion auch eine gemeinsame Geschichte teile.

Vorsichtige Balkan-Politik
Seit dem Beginn des Zerfalls des von Tito geschaffenen Jugoslawien Ende der achtziger Jahre bemüht sich die türkische Regierung intensiv um das Schicksal der Muslime auf dem Balkan. Ankara führt dieses Interesse offiziell auf die gemeinsamen historischen und religiösen Bindungen zurück, träumt aber heimlich auch davon, als «Schutzpatron aller Muslime auf dem Balkan» seine Einflusssphäre bis hin zur Adria auszudehnen. Von einer türkischen Einflusssphäre zwischen China und der Adria hatte öffentlich als erster türkischer Politiker der verstorbene Turgut Özal geträumt. Er forderte schon zu Beginn der neunziger Jahre die Nato-Alliierten nachdrücklich auf, die Bosnien- und die Kosovo-Frage gleichzeitig und notfalls mit Gewalt zu bereinigen. Auch beim Nato-Angriff gegen Jugoslawien gehört die Türkei zu den wenigen Nato-Staaten, die von Beginn der Operation an ihre Bereitschaft erklärt hatte, auch Bodentruppen zur Verfügung zu stellen.
Dennoch ist die Balkan-Politik Ankaras heute nicht mehr von der Abenteuerlust Özals bestimmt; sie ist vielmehr geprägt von einer besorgten Vorsicht der Regierung Ecevit. Dass der amerikanische Präsident Clinton am Dienstag die Souveränität Jugoslawiens über Kosovo in Frage gestellt hatte, hat Ankara alarmiert. Eine Unabhängigkeit Kosovos dürfte nämlich zum Präzedenzfall werden und in der unruhigen Region des Balkans oder des Nahen Ostens auch andere ethnische Minderheiten dazu verleiten, ihre Unabhängigkeit zu fordern. Das gilt etwa für die nordirakischen Kurden, die wie die Kosovo-Albaner in dem von ihnen beanspruchten Gebiet die überwältigende Bevölkerungsmehrheit ausmachen. Ein unabhängiges «Kurdistan» direkt an der südlichen Grenze der Türkei ist für die Regierung Ecevit aber ein Albtraum. Ankara macht sich auch wegen der «neuen Interpretation» des Völkerrechts Sorgen. Die Nato rechtfertigt ihren Militäreinsatz gegen Jugoslawien mit dem Argument, der Schutz der Menschenrechte und der Umgang mit Minoritäten seien längst nicht mehr die innere Angelegenheit eines souveränen Staates. Die Türkei spricht ihrer kurdischen Minorität aber jedes Recht auf kulturelle Eigenständigkeit ab und rechtfertigt dies mit dem Argument, es handle sich beim Kurden-Problem um eine innere Angelegenheit. Nervös weist die türkische Regierung jede Parallele zwischen den Albanern in Kosovo und den Kurden in der Türkei zurück.

Zwiespältige Presse
Der politische Zwiespalt widerspiegelt sich auch deutlich in der türkischen Presse. Diplomaten melden sich beinah täglich zu Wort, um die Unterschiede zwischen Kosovo und dem kurdischen Südosten der Türkei herauszustreichen. Jugoslawien sei als ein Bundesstaat gegründet worden und habe den Kosovo-Albanern Autonomie gewährt, kommentierte der ehemalige Diplomat Coskun Kirca. Die Türkei hingegen sei seit ihrer Gründung «ethnisch einheitlich», und sie habe den Kurden auch nie ein Recht auf Autonomie eingeräumt. Der ehemalige Aussenminister Mümtaz Söysal sprach am Mittwoch von den Erfahrungen, welche die türkische Armee im Kampf gegen die «kurdischen Separatisten» in unwegsamen Bergregionen gesammelt habe, und mutmasste, dass die Europäer im Falle eines Bodenkriegs in Kosovo versucht sein könnten, die erprobten türkischen Soldaten in Kosovo einzusetzen. Söysal riet der Regierung, nicht für ein solches Europa, das einen Beitritt der Türkei zur EU wegen der Kurdenfrage ausgeschlossen habe, die heissen Kastanien aus dem Feuer zu holen.