junge Welt 24.03.1999

Müssen Völkerrechtler umschulen?

jW sprach mit dem Hamburger Wissenschaftler Reinhard Mutz
(Vizedirektor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg)

F: Mit dem angedrohten Krieg gegen Jugoslawien führt die NATO das Völkerrecht ad absurdum. Können Völkerrechtler nun zur Umschulung gehen?
Wenn man eine einzelne Bestimmung mißachtet, bleibt das Völkerrecht als Ganzes noch bestehen. Aber Sie haben insofern recht, daß nicht erst ein Einsatz militärischer Mittel im Kosovo durch die NATO völkerrechtswidrig wäre. Völkerrechtswidrig war bereits die Androhung militärischer Gewalt, wie sie in den letzten Monaten gebetsmühlenhaft stattgefunden hat. Das ist unzweifelhaft, und ich kenne auch keinen Völkerrechtler, der das in Frage stellt.

F: Ist dem Konflikt im Kosovo auch nur in Ansätzen mit Bomben beizukommen, wie allerorten behauptet wird?
Das bezweifle ich doch sehr. Wenn es zutreffen würde, was in der öffentlichen Meinungsbildung mittlerweile ein fest etabliertes Klischee ist, wonach Milosevic jemand sei, der nur die Sprache der Gewalt verstehe, dann hätte man doch im vergangenen dreiviertel Jahr Wirkung sehen müssen. Die Sprache der Gewalt ist nun wirklich hinreichend zum Zuge gekommen, und bisher gibt es nicht das erwartete Einlenken. Ich kann mir schwer vorstellen, daß das Ernstmachen der Drohung, die wirklichen Militäreinsätze mit Raketen und später mit Kampfbombern, eine Änderung herbeiführen würde. Einfach deshalb nicht, weil es nicht eine einzelne Person ist, die gefragt werden muß. Es wird notorisch übersehen, daß es auch in Jugoslawien ein politisches Kräftespektrum gibt, das sich aus verschiedenen Parteien, verschiedenen politischen Kräften zusammensetzt. Es gibt im Fall des Kosovoproblems und der Frage einer Zustimmung zur Entsendung von NATO-Streitkräften in das Kosovo auf unbestimmte Zeit als Besatzungstruppen keine sichtbaren Auffassungsunterschiede zwischen den relevanten Parteien und Gruppierungen in Belgrad. Hinzu kommt die relativ geschlossene Meinung in der Bevölkerung.

F: Rußland spricht sich klar gegen etwaige NATO- Angriffe auf Jugoslawien aus. Welche Konsequenzen auf internationaler Ebene hätte ein Negieren der russischen Position?
Zwei Dinge werden in aller Regel durcheinandergebracht. Einerseits der politische Teil des Rambouillet-Papiers, der zwischen den Mitgliedsstaaten der Balkan-Kontaktgruppe einvernehmlich so entschieden ist. Dabei handelt es sich um ein weitgehend faires Angebot an die beiden Konfliktparteien im Kosovo, was den künftigen politischen Status angeht. In der Frage des darin fixierten Autonomiestatus gibt es zwischen Serben und Albanern auch einen Fast-Konsens. Von dieser Position der Balkan-Kontaktgruppe kann man begründet behaupten, sie repräsentiere die sogenannte internationale Gemeinschaft. Andererseits gibt es zu dem Papier zwei Anhänge, wovon einer der umstrittene ist: Demnach soll die NATO die Umsetzung des Friedensplans militärisch überwachen. Dies findet nicht die Zustimmung des russischen Vertreters in der Kontaktgruppe. Hinter diesem Teil des Vertragsentwurfs stehen ausschließlich die fünf westlichen Mitglieder der Balkan-Kontaktgruppe. Durch die Ablehnung Moskaus hat dieser Vorschlag eine andere Qualität: Er ist nicht getragen von der »internationalen Gemeinschaft«.

F: Mit welchen Reaktionen wäre seitens Rußlands also zu rechnen, sollte diese Position mit NATO-Luftangriffen durchgesetzt werden?
Seriöserweise kann man schwer sagen, was vielleicht in vier Wochen geschieht. Wir haben allerdings Präzedenzfälle: Auch das Bombardement auf die bosnischen Serben im Herbst 1995 hat flammenden russischen Protest ausgelöst, der aber verbal blieb. Moskau hat rhetorisch protestiert, aber keine weitergehenden Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil, Rußland hat sich wenige Wochen später auch unter NATO- Kommando an der Überwachungsstreitmacht beteiligt. Mit Sicherheit sind auch jetzt politische Proteste zu erwarten, weitergehende Reaktionen liegen aber im Ungewissen. Angedeutet worden ist, das Verhältnis zur NATO zu überprüfen, also möglicherweise auch den Grundlagenvertrag zwischen Rußland und der NATO vom Mai 1997 nicht weiter zu befolgen. Das wäre dann eine ernstere Krise im Verhältnis des Westens zu Rußland.

F: Mit Blick auf die Türkei und die dortige Situation der kurdischen Bevölkerung kann man doch vermuten, daß es der NATO nicht um die »Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo« geht, wie immer wieder betont wird.
Ich denke, man muß differenzieren. Auf der einen Seite gibt es einen eindeutigen geographischen Unterschied. Das Kosovo liegt ein Stück näher. Insbesondere die deutschsprachigen Länder sind durch die Auswirkungen des Kosovoproblems in Form von Flüchtlingen in wesentlich stärkerem Maße betroffen. Die Flüchtlingszahlen aus dem Kosovo-Kriegsgebiet haben gegenwärtig ganz andere Größenordnungen als aus Südostanatolien. Aber auf der anderen Seite ist man im Kosovokonflikt ein erhebliches Stück weiter als etwa an vergleichbaren Schauplätzen, wozu auch die Kurden-Problematik in der Türkei gehört. Die beiden Kosovo-Konfliktparteien haben zusammengesessen und sich in wesentlichen Teilen beträchtlich angenähert. Kann man sich vorstellen, daß die türkische Regierung mit der PKK oder die israelische Regierung mit der Hisbollah spricht? Das sind in der Wahrnehmung der jeweiligen Regierungen terroristische Vereinigungen, so wie das Belgrad über die UCK auch lange gesagt hat.

F: Nichtsdestotrotz wird Belgrad und nicht Ankara oder Tel Aviv von der NATO bedroht. Gibt es im Falle Jugoslawien also andere Interessen als die der Menschenrechtssicherung?
In einem Monat will die NATO ihr neues Strategie-Konzept verabschieden. Es sind zwar noch nicht einmal Entwürfe bekannt, aber der Diskussion darum kann man entnehmen, daß neben der Selbstverteidigung der Bündnisstaaten als zweiter großer Aufgabenschwerpunkt die Krisenbewältigung auch jenseits des NATO-Vertragsgebietes hinzukommt. Von seiten der NATO gibt es ein Interesse zu demonstrieren, wie man sich das vorstellen könnte. Zudem will man die Zustimmung der jeweiligen politischen Öffentlichkeiten gewinnen.

Interview: Rüdiger Göbel