Hamburger Abendblatt 24.3.99

Geiseln im Bus: Polizei räumt Fehler ein
Täter seit Wochen im Visier - „Es gibt günstigere Gelegenheiten zur Festnahme“

Von KRISTINA JOHRDE und SASKIA TANTS
Am Tag nach dem Geiseldrama in einem Linienbus muß sich die Polizei Kritik aus den eigenen Reihen gefallen lassen. „Ungeschicktheit an der Front“, kommentierte ein Ermittler den Zugriff seiner Kollegen. Die Beamten der Bereitschaftspolizei hatten den gesuchten Kurden - wie gestern in einem großen Teil der Auflage berichtet - im vollbesetzten Bus stellen wollen.  Die Folge: Sinik T. nahm zwei junge Männer und eine 14jährige als Geiseln. Einem der Opfer - Christian J. (20) - hielt der militante Kurde fast eine Stunde lang ein Butterfly-Messer an die Kehle.Selbst die Polizeiführung räumte Pannen ein. Polizeisprecher Reinhard Fallak formulierte es gestern so: „Es gibt sicherlich günstigere Gelegenheiten, jemanden festzunehmen.“
Tatsächlich soll die Festnahme des PKK-Anhängers zu diesem Zeitpunkt alles andere als geplant gewesen sein. Polizei und Staatsanwaltschaft war der Name des in St.  Georg untergetauchten Kurden bekannt. Er gehörte zu den Besetzern des Kurt-Schumacher-Hauses im Februar. Die Behörden hatten ihn damals nach mehrstündigen Verhandlungen im Austausch gegen den SPD-Kreisgeschäftsführer Dirk Sielmann mit 14 weiteren Komplizen ziehen lassen.
In den Wochen danach wurde der Geiselnehmer bei mehreren Kurden-Aktionen erkannt und zum Schluß observiert. Aus taktischen und noch geheimgehaltenen Gründen hatten die Ermittler des Landeskriminalamtes (LKA) abgewartet - obwohl bereits seit Wochen ein Haftbefehl gegen den Asylbewerber Sinik T.  vorlag.
Davon ahnte der Festnahmetrupp der Bereitschaftspolizei offenbar nichts, als er am Montag abend nach einer Kurden-Demonstration in der City die Verfolgung des 18jährigen aufnahm. Kollegen hatten den gesuchten PKK-Anhänger vom Fahndungsfoto in der Menge der Demonstranten erkannt. Zum weiteren Geschehen und der Tatsache, daß die Beamten den Kurden ausgerechnet in einem Linienbus festnehmen wollten, sagte Polizeisprecher Reinhard Fallak: „Die Beamten hatten wohl nicht mit der Kurzschlußhandlung des Kurden gerechnet.“
Sonderbar: Der Mann war doch als Geiselnehmer bekannt und wurde gerade aus diesem Grund gesucht . . .
Zum Glück nahm alles doch noch ein gutes Ende. Wie berichtet, hatte der Geiselnehmer seine Opfer nach einer Stunde der Angst freigelassen und sich der Polizei ergeben. Jetzt sitzt Sinik T. im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis. Ihm droht wegen Geiselnahme eine Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren.  Oberstaatsanwalt Rüdiger Bagger: „Wird er als Jugendlicher verurteilt, beträgt die Höchststrafe zehn Jahre. Sieht ihn der Richter dagegen als Erwachsenen, drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft.“
Die Opfer des Geiselnehmers standen gestern immer noch unter Schock. Der 20 Jahre alte Christian J. aus Eimsbüttel war nach Aussage seines Stiefvaters kaum ansprechbar. Die Mutter des jungen Mannes, Ingeborg H., hatte während des Geiseldramas in unmittelbarer Nähe des Linienbusses um das Leben ihres Sohnes gezittert.
„Hoffentlich passiert Christian nichts“, wiederholte sie wieder und wieder. Sie mußte aus einiger Entfernung mit ansehen, wie ihrem Sohn ein Messer an Brust und Kehle gehalten wurde.
Ironie des Geschehens: Während des Dramas im Linienbus lief im ZDF der Film über die Geiselnahme von Gladbeck. Die Gangster hatten damals nach einem mißglückten Banküberfall einen Linienbus gekapert und zwei Geiseln erschossen.
Mit Sinik T. sitzen nun drei der Besetzer der SPD-Zentrale in Untersuchungshaft. Dabei waren es neun Kurden, die vom Mobilen Einsatzkommando der Polizei überwältigt worden waren. Es ergingen sechs Haftbefehle. Vier der Geiselnehmer wurden gegen Auflagen von der Haft verschont.
Oberstaatsanwalt Rüdiger Bagger: „Die Ermittlungen gegen weitere noch flüchtige Geiselnehmer dauern an.“