Nürnberger Nachrichten 24.3.99

Nach Öcalans Verhaftung und einem Anschlag gleicht die Stadt Van einem Heerlager
Kurdische Kandidaten einfach festgesetzt
Vor den Wahlen wird die PKK-nahe Hadep-Partei massiv behindert – Keine Chance für Tourismus

VON THOMAS SEIBERT
VAN – Zenun blickt nervös um sich. Auf der „Straße der Republik“ gleich neben dem Teegarten, in dem der junge Mann sitzt, patrouillieren schwerbewaffnete Soldaten, Panzerwagen mit aufgepflanzten Maschinengewehren donnern vorüber. Polizisten in Uniform und in Zivil stehen an jeder Straßenecke, und vor dem Sitz des Gouverneurs ist eine Hundertschaft der Spezialeinheiten in voller Kampfmontur aufmarschiert.
Soldaten und Polizei gehören in der 225 000 Einwohner zählenden Provinzhauptstadt Van im Südosten der Türkei zwar schon seit Jahren zum Stadtbild, doch in jüngster Zeit sind die Sicherheitsaufgebote noch einmal verstärkt worden:
Seit der Festnahme von PKK-Chef Abdullah Öcalan Mitte Februar und dem Mordanschlag auf einen Provinzgouverneur in Zentralanatolien in der vergangenen Woche gleicht Van einem Heerlager.

Vom Verbot bedroht
Auf Leute wie Zenun wirkt das martialische Großaufgebot noch bedrohlicher als auf andere. Der junge Mann mit Designer-Brille ist Mitglied in der Provinzleitung der kurdischen Partei Hadep, der die türkischen Behörden vorwerfen, von der PKK ferngesteuert zu werden. Der Partei droht das Verbot, obwohl sie in Van und in anderen Städten im Kurdengebiet eine starke politische Kraft ist.
Auch im Wahlkampf für die Parlaments- und Kommunalwahlen am 18. April wird die Hadep behindert: Ihr Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters von Van wurde wie rund 2000 andere Parteifunktionäre im ganzen Land in den vergangenen Wochen festgenommen; erst seit einigen Tagen ist er wieder frei.
„Wir sind zwar die stärkste Partei hier, aber das ist noch keine Garantie, daß wir auch regieren dürfen“, sagt eine Funktionärin. Bei der Lagebeschreibung klingt auch trotziger Stolz durch: Bei der letzten Parlamentswahl 1995 erzielte die Hadep in Van nach eigenen Angaben 63 Prozent. Obwohl die Partei auch in anderen Teilen des vorwiegend kurdisch besiedelten Südostens der Türkei auf ähnlich imposante Ergebnisse kam, scheiterte sie an der landesweiten Zehn-Prozent-Hürde und ist deshalb nicht im Parlament von Ankara vertreten. Diesmal sollen es in Van 65 Prozent werden, und auch der Bürgermeisterposten soll erobert werden.
Die Region Van in der Nähe der Grenze zu Iran gehört zu jenen Gebieten in der Türkei, in der fast jeden Tag gekämpft und gestorben wird. In den noch schneebedeckten Bergen, die die Stadt am Van-See, dem größten Binnensee der Türkei, von drei Seiten her so malerisch einrahmen, jagen sich Einheiten der türkischen Armee und der PKK. Davon künden auch die Straßensperren an den Ausfallstraßen. Für die PKK gehört Van fest zu „Kurdistan“, dem erträumten Staatsgebiet für die Kurden – ein Alptraum für viele Türken, für die eine Aufteilung ihres Staatsgebietes das größte Unglück wäre. Das Mitleid für die Hadep hält sich außerhalb ihrer Anhängerschaft denn auch in Grenzen, besonders beim politischen Gegner – und nicht nur bei den Machthabern in Ankara.
„Von außen hineingetragen“
Bürgermeister Aydin Talay von der islamistischen Tugendpartei, die mit dem kemalistischen Staat ihre eigenen Probleme hat, gibt jedenfalls nichts auf die optimistischen Wahlprognosen der Kurdenpartei. „Das schaffen die nie“, prophezeit Talay. „Die Leute wählen diejenigen, die sich um sie kümmern – und das sind wir.“ Spaltungstendenzen werden nach Talays Meinung vor allem vom westlichen Ausland aus und besonders von Italien und Deutschland in die Türkei hineingetragen.
Van hätte den Frieden bitter nötig. Viele Menschen hausen in Lehmhütten und müssen sich in den langen Wintermonaten zum Heizen auf die von der Stadtverwaltung subventionierte Kohle verlassen. Mit dem atemberaubend schönen Bergpanorama und dem türkisgrünen See vor der Haustür sowie mit seinen Zeugnissen einer fast 3000 Jahre zurückreichenden Geschichte hätte die Stadt in normalen Zeiten zudem die Chance, sich in einen florierenden Urlaubsort zu verwandeln. Doch damit wird es so lange nichts, wie der Besucher im Flughafengebäude bei der Ankunft statt von Hotelboten und Reiseleitern von der Militärpolizei begrüßt wird.