junge Welt 23.03.1999

Wie haben Sie die Newroz-Feiern erlebt?
jW sprach mit Rüdiger Midasch, Teilnehmer einer Beobachterdelegation in der Türkei

F: Sie sind mit einer Delegation zum kurdischen Neujahrsfest in die Türkei geflogen. Was haben Sie von den Newroz-«Feierlichkeiten« am Sonntag in Istanbul mitbekommen?
Bereits im Vorfeld versuchte der türkische Staat, die Newroz-Feste zu verhindern. Am Samstag wurden in Istanbul insgesamt 49 Kulturvereine sowie Parteibüros der HADEP geschlossen. Zudem sollen allein an diesem Tag 700 Leute verhaftet worden sein. D. h. alle, die potentiell die Feierlichkeiten vorbereiteten und mitgestalteten, waren aus dem Weg geräumt worden. Unser Türkei-Besuch hatte bereits am Samstag eine unerwartete Wendung bekommen, die das alles sehr erschwert hat. Ohne weitere Begründung wurden unsere Dolmetscherinnen verhaftet. Sie waren in einem Kulturverein und haben sich des »Verbrechens« schuldig gemacht, dort Tee getrunken zu haben, als plötzlich Polizei hereinstürmte und sie wie auch 20 weitere Personen verhaftete. Die 20 anderen sind mittlerweile wieder freigelassen worden. Nur die beiden, die uns als Dolmetscherinnen geholfen haben, sind am Montag morgen nach Deutschland abgeschoben worden. Am Samstag gab es zudem eine Bombendrohung gegen das Büro des türkischen Menschenrechtsvereins. Vor dem Gebäude war ein Paket abgelegt worden, in dem man eine Bombe vermutete. Das Päckchen ist dann gesprengt worden. Im nachhinein hat sich herausgestellt, daß es wohl keine Bombe war. Aber es war eben Terror und Einschüchterung: Die ganze Straße war abgesperrt, niemand durfte das Haus verlassen. Der Sonntag war für uns insofern schwer, weil wir versuchten, die beiden inhaftierten Dolmetscherinnen rauszubekommen. Gespräche mit dem Konsulat, mit Politikern hier und nach Deutschland waren notwendig. Das hatte einen gewissen Teil des Tages in Anspruch genommen. Die Newroz-Feierlichkeiten zu beobachten war insofern schwierig, weil keine zentralen Kundgebungen geplant waren. Es war ja bekannt, daß alles verboten ist. Dennoch fanden in 24 Stadtteilen von Istanbul ganz spontane Feierlichkeiten statt, die allerdings alle mit brutaler Gewalt aufgelöst worden sind. Es hat in Istanbul elf Verletzte durch Schußwaffen gegeben. Knapp 200 weitere wurden durch Schläge der Polizei verletzt. Im Prinzip ist alles verhindert worden. Die Darstellung in den deutschen Medien, daß die Menschen, die hier gefeiert haben, die Polizei angegriffen haben, ist falsch. Nach allem, was wir wissen, war es genau umgekehrt. Die Polizei hatte sehr aggressiv reagiert und versucht, alles zu unterbinden. Daraufhin kam es zu Straßenschlachten. Von einer belgischen Delegation hörten wir, daß die Polizei vermummt auf Dächern postiert war und mit Maschinengewehren in die Menge geschossen hat. O-Ton der Belgier: Wir sind selber um unser Leben gelaufen. Man sieht also die andere Dimension, hier zu demonstrieren. Man riskiert zum Teil sein Leben.
F: Was geschieht mit den Verletzten und Verhafteten?
Die am Sonntag Festgenommen sind noch in Haft. Die am Samstag Verhafteten sind größtenteils frei. Wir haben am Montag nachmittag versucht, ein Opfer, das durch Schüsse schwer verletzt wurde, zu besuchen. Das war äußerst kompliziert. Im Untergeschoß des Krankenhauses befindet sich eine Polizeistation. Es waren langwierige Verhandlungen notwendig, um überhaupt die Chance zu haben, den Jungen sehen zu können. Zwei aus unserer Delegation sowie eine Dolmetscherin durften dann ins Krankenzimmer. Allerdings nur, um guten Tag zu sagen, und die Hand zu geben. Das war es. Ein Gespräch, Fragen über Hintergründe und Umstände usw. sind unterbunden worden.
F: Die Polizei war dabei?
Ja, sicher.
F: Können Sie sich in Istanbul frei bewegen?
Man kann sich frei bewegen, aber es sind sehr viele Zivilpolizisten hier. Wir stehen unter Beobachtung. Wenn man sich politisch betätigt, ist das hier so.
Interview: Rüdiger Göbel