Frankfurter Rundschau 23.3.99

Die Feuer sind gelöscht, der Konflikt schwelt
Während PPK-Chef Öcalan auf seinen Prozeß wartet, zieht Ankara die Schraube der Repression weiter an

Von Gerd Höhler
Das größte Newroz-Feuer brannte bei Midyat in der südostanatolischen Provinz Mardin. Hoch loderten die Flammen in den Himmel, ein riesiger schwarzer Rauchpilz stand über jener Pipeline, durch die täglich eine halbe Million Faß irakisches Rohöl zum türkischen Mittelmeerhafen Yumurtalik gepumpt werden. Dem Brand ging eine Explosion voraus, mutmaßlich ein Sprengstoffanschlag kurdischer Rebellen. Mehrere Stunden dauerte es, bis die Flammen unter Kontrolle waren.
Leichter hatten es die türkischen Sicherheitskräfte bei den anderen Löschaktionen dieses Newroz-Sonntages, des kurdischen Neujahrsfestes.  In Istanbul löschte die Polizei mehrere der traditionellen Newroz-Feuer, desgleichen in der südostanatolischen Kurdenmetropole Diyarbakir. Mal wurden die Flammen mit Hilfe von Wasserwerfern erstickt, mal die Feuerwehr gerufen, dann wieder walzten die Sicherheitskräfte die Feuer einfach mit Bulldozern platt.
Die Flammen sind gelöscht, aber der Konflikt schwelt weiter. Während der Mitte Februar seinen Häschern in die Hände gefallene PKK-Chef Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali seinen Prozeß erwartet, dreht der Staat die Repressionsspirale weiter. Erstmals seit vielen Jahren waren jetzt Newroz-Feiern in den als besonders „neuralgisch“ geltenden Kurdenprovinzen Diyarbakir und Batman ganz verboten. Die sechs unter Ausnahmezustand stehenden Südostprovinzen waren abgeriegelt, Journalisten und ausländischen Beobachtern verweigerte die Polizei das Bereisen der Region.
In der Provinz Mardin wurde eine sechsköpfige Beobachterdelegation aus Deutschland festgenommen und offenbar später in die Westtürkei abgeschoben. Auch bei Adana in der Südtürkei wurden neun deutsche Beobachter festgesetzt. Sie sollten noch am gestrigen Montag dem Haftrichter vorgeführt werden. Das Auswärtige Amt und die deutsche Botschaft in Ankara bemühten sich am Montag noch um eine Aufklärung der Vorgänge.
Allein aus Diyarbakir wurden am Sonntag rund 500 Festnahmen gemeldet.  725 Menschen nahm die Polizei nach eigenen Angaben in Istanbul in Gewahrsam. Landesweit dürften weit über 2000 Menschen festgenommen worden sein. In Istanbul lieferten sich kurdische Demonstranten Straßenschlachten mit der Polizei. Dabei fielen auch Schüsse. Vier Menschen, darunter ein zehnjähriger Junge, wurden verletzt.
Schon vor dem Newroz-Fest hatte die Polizei in vielen Landesteilen kurdische Bürgerrechtler mit Razzien und Massenfestnahmen einzuschüchtern versucht. Ins Visier der Sicherheitskräfte kam dabei vor allem die kurdische Demokratie-Partei des Volkes (Hadep). Gegen sie läuft ein Verbotsverfahren vor dem Verfassungsgericht. Ihr Vorsitzender sitzt in Haft, gegen die meisten führenden Funktionäre sind Strafverfahren anhängig. Seit der Ergreifung Öcalans wurden bereits Tausende Hadep-Mitglieder festgenommen. Am Samstag vor Newroz gab es in vielen Städten eine weitere Welle von gegen die Hadep gerichteten Durchsuchungen und Festnahmen. Generalstaatsanwalt Vural Savas konnte sich allerdings mit dem Antrag, der Hadep im Vorgriff auf ein Verbot die Teilnahme an der für Mitte April geplanten Parlamentswahl zu untersagen, nicht durchsetzen.
Man darf vermuten, daß dabei auch taktische Überlegungen eine Rolle spielten: Stimmen für die Hadep fallen ohnehin praktisch unter den Tisch, weil die Partei landesweit unmöglich die Zehnprozenthürde überspringen kann. Verweigert man ihr dagegen die Teilnahme an der Wahl, könnten die kurdischen Wähler wohl in der Mehrzahl zu den islamischen Fundamentalisten überlaufen, was nicht erwünscht sein dürfte.
Daß es letztlich zum Verbot der Hadep kommen wird, scheint jedoch sicher. Eines haben die Politiker in Ankara mit ihrem harten Kurs bereits erreicht: selbst gemäßigte kurdische Gruppen werden kriminalisiert, in die Illegalität abgedrängt und damit radikalisiert. Davon profitiert die PKK. Sie hat seit Öcalans Festnahme und dessen entwürdigender Vorführung viel Solidarität erfahren. So knüpft nun die im Exil arbeitende Sozialistische Partei Kurdistans, eine gemäßigte Gruppe, die sich früher klar vom bewaffneten Kampf Öcalans distanzierte, Kontakte zur PKK.  Ministerpräsident Bülent Ecevit hoffte zwar die Festnahme Öcalans, des „Staatsfeindes Nummer eins“, im Wahlkampf als Trumpfkarte ausspielen zu können. Aber ob er dieses Erfolges froh wird, bleibt angesichts der Welle von Terroranschlägen, die seit Öcalans Ergreifung über das Land rollt, fraglich.
Überdies sieht sich Ecevit nun mit einem drohenden innenpolitischen Chaos konfrontiert. Die „Enttäuschten“, eine zunächst belächelte Gruppe von rund 100 Abgeordneten, die verärgert sind, weil sie von ihren Parteien nicht wieder als Kandidaten aufgestellt wurden, könnten dem Land eine handfeste Krise bescheren. Unterstützung fanden die „Enttäuschten“ inzwischen bei der islamistischen Tugend-Partei, die mit 144 Abgeordneten die stärkste Fraktion im Parlament stellt. Gemeinsam erzwangen sie eine erneute Einberufung des wegen des Wahlkampfs bereits aufgelösten Parlaments.
Peinlicher noch für Ecevit: die rebellierenden Parlamentarier setzten einen Mißtrauensantrag gegen Ecevit auf die Tagesordnung. Für den Sturz der Regierung fand sich bei der Abstimmung am Montag nachmittag zwar nicht die erforderliche absolute Mehrheit. Aber schon droht neues Ungemach.
Jetzt wollen die „Enttäuschten“ eine Verschiebung der für den 18. April angesetzten Parlamentswahlen durchsetzen. Das ginge mit einfacher Mehrheit. Ministerpräsident Ecevit, gerade auf Wahlkampftour in der westtürkischen Provinz Izmir, brach seine Reise ab und eilte am Sonntag abend nach Ankara zurück. „Überraschend und schlecht“ seien die Nachrichten aus der Hauptstadt, seine Regierung sehe sich mit einem „zivilen Putschversuch“ konfrontiert, erklärte Ecevit.
Am Montag nachmittag gewann der bedrängte Premier eine kurze Atempause: das Parlamentspräsidium beschloß, gegen wütende Proteste der Opposition, den Antrag auf Verschiebung des Wahltermins zunächst dem zuständigen Verfassungsausschuß des Parlaments vorzulegen. Damit gewann die Regierung wertvolle Zeit. Sie erwägt nun, das Verfassungsgericht anzurufen, um den Wahltermin endgültig auf den 18.  April festzuklopfen.
Aber neue Kontroversen kündigen sich bereits an. Während man im Parlament über Mißtrauensantrag und Wahltermin stritt, wurde bekannt, daß die Staatsanwaltschaft nun auch ein Verbotsverfahren gegen die islamistische Tugend-Partei (FP) einleiten will. Die Ankläger begründen das damit, die FP sei eine Nachfolgeorganisation der bereits vergangenes Jahr vom Verfassungsgericht verbotenen Wohlfahrtspartei.
Auf die leichte Schulter, das zeigt seine eilige Rückkehr in die Hauptstadt, kann Regierungschef Ecevit die Revolte im Parlament nicht nehmen.  Womöglich steht mehr auf dem Spiel als der Wahltermin. Vergangene Woche schalteten sich bereits die Militärs, die eigentlichen Machthaber der Türkei, in die Diskussion ein. Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu höchstpersönlich erteilte in einem Interview mit der Zeitung Hürriyet allen Überlegungen zu einer Verschiebung der Wahlen eine kategorische Absage. Wer an dem Wahltermin rüttele, führe das Land „auf den Weg ins Chaos“. Das aber, so der General, dürfe man „nicht zulassen“. Vor dem Hintergrund von drei Staatsstreichen der türkischen Militärs seit 1960 hat eine solche Warnung ihr eigenes Gewicht.