Stuttgarter Zeitung 22.3.99

Schießereien in Istanbul bei Newroz-Feiern
Festnahmen in Ankara - Friedliche Feste in Deutschland

ISTANBUL (dpa/afr). In Istanbul ist es am Sonntag zu schweren Zusammenstößen und Schießereien zwischen kurdischen Demonstranten und der türkischen Polizei gekommen.
Nach offiziellen Angaben versuchten Kurden in mehreren Stadtteilen, anläßlich des Frühlingsfestes Newroz für die militante Separatistenorganisation PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) zu demonstrieren. Im Stadtteil Gazi Mahallesi wurde von beiden Seiten auch gezielt geschossen. Dabei wurden ein Demonstrant am Kopf und zwei Polizisten am Körper von Kugeln getroffen.
Nach weiteren Angaben der Polizei wurden allein in Istanbul rund 500 Personen festgenommen. Die Zahl der Verletzten sei zunächst unklar. Die Bereitschaftspolizei versuche, die Lage unter Kontrolle zu halten. Weitere rund 500 Festnahmen meldete der private türkische Nachrichtensender NTV aus der südostanatolischen Provinzhauptstadt Diyarbakir. Hier waren Newroz-Feiern mit dem Anzünden der traditionellen Feuer gänzlich verboten. Wer dennoch alte Autoreifen oder Holz anzünden wollte, wurde von der Polizei dabei gehindert und zumeist festgenommen. Bereits im Vorfeld des Festes wurden Hunderte von Mitgliedern der prokur_dischen Hadep-Partei, kleiner Linksparteien und Besucher von kurdennahen Kulturzentren vorsorglich verhaftet.
Auch aus der Hauptstadt Ankara sowie aus vielen Städten wurden verbotene Demonstrationen von Kurden mit vielen Festnahmen gemeldet. Allerdings blieben zunächst Berichte über Zusammenstöße aus. In den überwiegend von Kurden bewohnten Provinzen im Südosten, außer Diyarbakir, wurde ein ruhiger Verlauf der Feiern zum Newroz-Fest gemeldet, nachdem vielerorts die Provinzgouverneure selbst die Feuer anzündeten und die Ritualien einleiteten.
Das Newroz-Fest zum Frühlingsanfang wird in vielen Regionen begangen, besonders farbig etwa im Iran und bei den Turkvölkern Zentralasiens. Für die Kurden ist der ¸¸Neue Tag’’ zu einem Symbol von Freiheit und Identität geworden und hat damit im Laufe der Zeit vor allem auch eine politische Dimension bekommen.
Auch in Deutschland haben Tausende von Kurden friedlich das Newroz-Fest gefeiert. Nach Angaben der Polizei gab es keine Zwischenfälle. Vereinzelt wurden auch Fahnen und Symbole der PKK sowie Bilder des festgenommenen PKK-Führers Abdullah Öcalan gezeigt. Eine der größten Kundgebungen gab es in Berlin, wo am Samstag abend rund 2000 Kurden friedlich demonstrierten. Ebenfalls ohne Zwischenfälle verliefen die Feiern der Kurden in Baden-Württemberg. Die größte Kundgebung des Landes fand in Stuttgart mit rund 1000 Teilnehmern statt. In Freiburg nahmen etwa 750 Menschen an dem Protest der Kurden teil. In Ulm demonstrierten rund 600 Kurden mit einem Fackelzug.



 
 

Berliner Zeitung 22.3.99

Festnahmen während des kurdischen Neujahrsfests
Deutsche Menschenrechtsdelegation festgesetzt / Ein Toter bei Selbstmordanschlag in der Osttürkei

Von Sigrid Averesch
ANKARA/BERLIN, 21. März. Zu Massenverhaftungen ist es am Wochenende in der Türkei während des kurdischen Neujahrsfestes Newroz gekommen. Nach Angaben des Newroz-Delegationsbüros in Troisdorf sind in der gesamten Türkei mindestens 7 000 Menschen von der Polizei festgenommen worden. Allein in Diyarbakir wurden rund 4 000 Menschen, darunter auch Mitglieder der prokurdischen Hadep-Partei verhaftet. Das Büro beruft sich auf Angaben von Hadep-Mitgliedern. Türkische Behörden meldeten demgegenüber über 2 000 Festnahmen.
In Diyarbakir waren Newrozfeiern mit dem Anzünden traditioneller Feuer gänzlich verboten. Bereits seit Jahren dürfen Menschenrechtsdelegationen und ausländische Journalisten zu Newroz nicht den Südosten der Türkei besuchen. Dort wie auch in der südtürkischen Stadt Adana kam es zu schweren Zusammenstößen. Ein Kind sei von einem Panzer überrollt worden, hieß es aus dem Delegationsbüro.
In Istanbul wurden mehr als 700 Personen festgenommen.  „Es herrscht eine bedrohliche Situation“, sagte die PDS-Landtagsabgeordnete aus Sachsen-Anhalt, Gudrun Tiedge, die sich als Mitglied einer Menschenrechtsdelegation in der Türkei aufhält, im Telefongespräch mit dieser Zeitung.
Parteibüro durchsucht
„Es herrscht eine hohe Militärpräsenz“, schilderte Tiedge die Situation in Istanbul. Dort nahm die Polizei bei der Durchsuchung des örtlichen Parteibüros der prokurdischen Hadep-Partei und eines Kulturzentrums mehrere hundert Menschen in Gewahrsam. Das Schicksal von zwei deutschen Dolmetscherinnen ist ungeklärt. „Es wurde nicht gesagt, weshalb sie festgenommen und wohin sie gebracht wurden“, sagte Tiedge.
Im Istanbuler Stadtteil Gazi Mahallasi schossen nach Angaben des Newroz-Delegationsbüro Polizisten auf Kurden, die ein Newroz-Feuer entzündet hatten. Drei Menschen, darunter ein zehnjähriger Junge, wurden verletzt.  Das Büro beruft sich auf Augenzeugenberichte einer niederländischen und belgischen Menschenrechtsdelegation.
In der südostanatolischen Provinz Batman seien 50 Kinder und Jugendliche verhaftet worden, teilte das Büro mit.  Seinen Informationen zufolge wurden 19 Deutsche verhaftet oder über Stunden in Gewahrsam genommen, so eine Gruppe mit dem Thüringer PDS-Landtagsabgeordneten Steffen Dittes in Nusaybin nahe der syrischen Grenze.
Am Sonntag abend waren noch neun Deutsche in Haft, die in Adana an nicht genehmigten Newrozfeiern teilgenommen hatten. Nach Angaben der deutschen Botschaft in Ankara sollen sie am heutigen Montag vor ein Staatssicherheitsgericht gestellt werden. Das Auswärtige Amt bat die Türkei um „unverzügliche Aufklärung“.
Der Einsatz der türkischen Sicherheitskräfte wurde von einem Krisenstab geleitet. Hunderte von Festnahmen und weitere Verletzte wurden aus verschiedenen Landesteilen gemeldet. Bei einem Selbstmordanschlag im Ort Van im Osten der Türkei wurden am Sonnabend ein Mensch getötet und drei weitere verletzt, berichtete Anadolu. Eine Explosion ereignete sich am Sonntag an der Erdölpipeline aus dem Irak ins türkische Ceyhan. Die Polizei vermutet Sabotage.
Angesichts der PKK-Drohungen gegen deutsche Urlauber versicherte der türkische Regierungschef Bülent Ecevit, diese könnten sein Land unbesorgt besuchen. Der „Welt am Sonntag“ sagte Ecevit, die Türkei habe „alle erforderlichen Maßnahmen getroffen, um die Sicherheit aller Urlauber zu gewährleisten“. Die PKK habe bereits früher mit Anschlägen auf Touristen gedroht. Die dagegen getroffenen Maßnahmen hätten ihr „keine Chance gegeben“, ihre Ziele zu erreichen, so Ecevit.
In Deutschland verliefen die Newrozfeiern dagegen friedlich. (mit Reuters, ADN)