Frankfurter Rundschau 22.3.99

Rigide hält die Polizei Istanbul im Griff
Menschenrechtler prangern de-facto-Ausnahmezustand zum kurdischen Newroz an

Von Dieter Balle (Istanbul) und Gerd Höhler (Athen)
Die nach Anschlägen massiv verstärkte Präsenz der Polizei in türkischen Großstädten hat am Wochenende in Istanbul mehrere Feiern zum kurdischen Neujahrsfest aufgelöst. Menschenrechtler kritisieren das Vorgehen und sprechen von einem de-facto-Ausnahmezustand.
Ayten S. macht um Mülltonnen einen großen Bogen. Die 42jährige Ärztin will kein Risiko eingehen. Tief sitzt der Schock über den Brandanschlag auf ein Kaufhaus in Bakirköy. 13 Menschen wurden getötet. Trotz allgegenwärtiger Polizeipräsenz sind dort mittlerweile viel weniger Kunden unterwegs. Den Istanbuler Behörden geht es in diesen Tagen darum, mit einem massiv verstärkten Polizeiaufgebot die Touristikindustrie zu beruhigen.
Kritiker sehen das anders. Etwa der Generalsekretär des türkischen Menschenrechtsvereins IHD, Hüsnü Öndül. Er spricht von einem De-facto-Ausnahmezustand in Istanbul wie in allen türkischen Metropolen, der zu einer bedenklichen Einschränkung der demokratischen Rechte der Bürger geführt habe. So herrscht nicht mehr nur in den kurdischen Provinzen, sondern in der gesamten Türkei trotz des laufenden Wahlkampfes absolutes Versammlungsverbot. Menschenrechtler berichten von präventiven Festnahmen in großem Stil, der Istanbuler Polizeipräsident habe Schießbefehl bei ungenehmigten Demonstrationen erteilt.
In einem öffentlichen Appell versuchten IHD sowie verschiedene gemäßigte linke und kurdenfreundliche Organisationen die Behörden zum kurdischen Neujahrsfest Newroz dazu zu bewegen, das strikte Versammlungsverbot zu lockern. Ein Aufruf, der auf taube Ohren stieß.  Vor allem die durchweg nationalistische Massenpresse mit ihrer Stimmungsmache auch gegen kurdenfreundliche legale Parteien wie die Demokratiepartei des Volkes, Hadep, heizte die Spannungen zwischen der türkischen Mehrheit und der auf zwei Millionen geschätzten kurdischstämmigen Minderheit in Istanbul weiter an. In den hauptsächlich von Kurden bewohnten Stadtrandvierteln patroullieren tagsüber Zivilstreifen und Uniformierte, des nachts gepanzerte Polizeifahrzeuge.
Immer wieder gebe es Razzien, bei denen wahllos Jugendliche in Gewahrsam genommen würden, erzählt der kurdische Student Mustafa.  Gerade erst sei er nach dreitägiger Haft entlassen worden. Wegen Aufforderung zu einer Ladenschließaktion, ein gängiges Prostestmittel im Viertel, war er zusammen mit Freunden festgenommen worden. Zwei Tage lang sei er geschlagen worden, so daß er nicht mehr gehen konnte, gab er beim IHD zu Protokoll. Mustafa fügte ein Attest bei.
Das im Vergleich zu den Vorjahren weitaus rigorosere Vorgehen der Polizei dürfte mit dem Fall Öcalan zusammenhängen. Der Mitte Februar in türkische Hände gefallene PKK-Chef wartet auf der Gefängnisinsel Imrali auf seinen Prozeß. In Istanbul löschte die Polizei am Sonntag mehrere Newroz-Feuer, wie sie von den Kurden zum Neujahrsfest entzündet werden. Im Stadtteil Yenibosna löste die Polizei eine Newroz-Feier mit Warnschüssen auf. Etwa 100 Menschen wurden in Gewahrsam genommen. Auch in der südostanatolischen Kurdenmetropole Diyarbakir löschten die Sicherheitskräfte mehrere Newroz-Feuer. Diyarbakir war, wie schon seit Wochen, für ausländische Beobachter abgeriegelt. Mit Kontrollen auf dem Flughafen der Stadt und an den nach Diyarbakir führenden Überlandstraßen versuchte die Polizei Ausländer abzufangen.  Augenzeugen berichteten von einem Großaufgebot gepanzerter Fahrzeuge und verstärkten Polizeistreifen. In der Provinz Mardin wurden vier türkische Journalisten, unter ihnen ein Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuter, festgenommen und in die Westtürkei abgeschoben.
Ein mutmaßlicher PKK-Attentäter sprengte sich nahe der osttürkischen Stadt Baskale in die Luft, als er in eine Straßenkontrolle der Polizei geriet.  Der etwa 25jährige Mann zündete eine am Körper getragene Bombe. Er war sofort tot, drei Polizisten wurden leicht verletzt.
In mehreren deutschen Städten feierten Tausende Kurden am Wochenende ihr Neujahrsfest friedlich. Nach Angaben der Polizei gab es keine Zwischenfälle.