Frankfurter Rundschau 20.3.99

Getötet, gefoltert, verschwunden
Im Blickpunkt: Seit Öcalans Verhaftung wächst der Terror gegen Kurden

Von Edgar Auth (Frankfurt a. M.)
Der türkische Menschenrechtsverein IHD bemüht sich derzeit, „auf den Beinen zu bleiben“. Das sagte Vedat Cetin, Vorstandsmitglied aus der Kurdenstadt Diyarbakir, beim Besuch der amnesty international-Gruppe in Mainz. Das sei angesichts der Verhaftungen von IHD-Mitgliedern seit der Festnahme von PKK-Chef Abdullah Öcalan nicht leicht.
Der IHD versteht sich als unabhängige Menschenrechtsorganisation, die nach dem Vorbild von ai handelt. Er wurde weltweit ausgezeichnet, zuletzt im Januar 1999 in Amsterdam mit der „Bettlermedaille“, dem höchsten niederländischen Menschenrechtspreis. Der IHD bilanziert und veröffentlicht Menschenrechtsverletzungen, für dessen typische Erscheinungsformen er einen Katalog aufgestellt hat. Dieser wird regelmäßig aktualisiert und verzeichnet für 1998 unter anderem: „167 Morde ,unbekannter Täter’; 103 aussergesetzliche Tötungen, zumeist infolge Folter; 1951 Personen kamen bei Gefechten ums Leben; 90 Getötete und 164 Verletzte infolge Angriffen auf Zivilisten; 27 Personen sind verschwunden; 449 Personen wurden gefoltert; 39 604 Personen wurden in Polizeihaft genommen; 3454 wurden dann später auch förmlich verhaftet; 848 Personen wurden von Sicherheitsorganen angegriffen und bedroht; die Bewohner von 30 Dörfern wurden vertrieben; 17 443 Personen verloren ihren Arbeitspltz aus politischen Gründen oder wegen gewerkschaftlicher Betätigung...“
Als Öcalan Mitte Februar aus Nairobi in die Türkei verschleppt wurde, wurden noch in derselben Nacht in Diyarbakir 1320 Menschen festgenommen, wie der IHD laut Cetin registrierte. amnesty berichtete Anfang März: „Die Unterdrückung der legalen Opposition durch den türkischen Staat ist nach Erkenntnissen von ai in den vergangenen Monaten massiv verstärkt worden.“ Büros der legalen Kurdenpartei Hadep seien durchsucht, Tausende Mitglieder und Anhänger seit Mitte November - dem Zeitpunkt, als Öcalan überraschend nach Rom kam - festgenommen worden.
Die meisten Menschenrechtsverletzungen würden aus den unter Ausnahmezustand stehenden kurdischen Südostprovinzen der Türkei gemeldet, so ai. Derzeit würden im Wahlkampf Hadep-Veranstaltungen „mit allen Mitteln“ verhindert, meldet die Zeitung Özgür Politika. In der Kurdenprovinz Mardin seien dabei jüngst 100 Menschen festgenommen worden.
Das Büro des IHD in Diyarbakir wurde von staatlicher Seite schon vor längerer Zeit geschlossen, erinnert Cetin. Als der PKK-Kommandant Semdin Sakik 1998 verhaftet wurde, sei behauptet worden, dieser habe ausgesagt, daß der IHD mit der verbotenen PKK in Verbindung stehe.  Sakik habe dies später öffentlich wiederrufen, sagt Cetin. Nun würden ähnliche Aussagen Öcalan zugeschrieben. Auch das glaubt Cetin nicht:
„Der türkische Staat sieht jeden, der sich für Menschenrechte einsetzt, als Terroristen an.“
Zugleich aber werden die Kurdengebiete abgeriegelt, sodaß unabhängige ausländische Beobachter nicht einreisen können. So wurde kürzlich eine Göttinger Delegation in Diyarbakir abgefangen und zurückgeschickt. Sie berichtete über „ein Klima des Terrors“, in weiten Teilen der Türkei. Der Eschborner Rechtsanwalt Thomas Matthes erzählte der FR, wie er vergeblich versuchte, zusammen mit einer Begleiterin nach Diyarbakir zu gelangen. Er sei auf dem Flughafen von Sicherheitskräften zurückgewiesen worden, mit der Begründung, ein neues Gesetz verbiete die Einreise in die Kurdengebiete. Ein solches Gesetz existiere offenbar gar nicht.