DIE WELT, 19.3.1999

Türkische Armee droht indirekt mit dem Griff nach der Macht

Von Evangelos Antonaros
Athen/Istanbul ­ Nach langem Schweigen hat der türkische Generalstabschef Ankaras Politiker davor gewarnt, die Toleranzschwelle der Armeespitze zu überschreiten. „Wir sind zutiefst besorgt, weil eine Verschiebung des Wahltermins Chaos und Unsicherheit auslösen würde“, sagte Hüseyin Kivrikoglu dem Massenblatt „Hürriyet“.
Der erst seit dem Sommer amtierende Vier-Sterne-General hat sich den Zeitpunkt seiner vielbeachteten Äußerungen bewußt ausgesucht: Noch am Donnerstag sollte das Parlament entscheiden, ob ein Mißtrauensvotum auf die Tagesordnung gesetzt wird.
Fällt die Minderheitsregierung des Sozialdemokraten Bülent Ecevit, so wäre der für den 18. April vorgesehene Wahltermin kaum einzuhalten.
Kivrikoglu hat sich allerdings nicht nur auf den Wahltermin beschränkt: Noch stärker beschäftigen das Militär die Bestrebungen zahlreicher Abgeordneter, Bestimmungen aus dem Strafgesetzbuch abzuschaffen, die bisher als Riegel gegen den Vormarsch der Islamisten gedient haben.
„Wir können und wollen solche Änderungen nicht hinnehmen“, sagte der Sprecher der Generalität, die sich als Hüter der säkularen Staatsideologie betrachtet. Seit 1960 hat die Armee insgesamt dreimal gegen frei gewählte Regierungen geputscht. Im Sommer 1997 hatte die Armee im Hintergrund den Sturz des islamistischen Premiers Necmettin Erbakan betrieben.
Das Militär befürchtet, daß durch die Abschaffung der Paragraphen, die die sogenannte Aufwiegelung gegen den Staat drakonisch bestrafen, ein Comeback des mit einem fünfjährigen politischen Betätigungsverbots bestraften Erbakan ermöglicht werden könnte. Das Parlament tagt nur dank eines Zweckbündnisses zwischen etwa 100 bei der künftigen Parlamentswahl nicht wiederaufgestellten Politikern aller Parteien und der islamistischen Tugend-Partei. Die Islamisten wollen die Aufhebung des Verbots gegen Erbakan durchsetzen. Die „enttäuschten Nicht-Kandidaten“ wollen hingegen den Wahltermin verschieben, um dadurch ihre jeweilige Parteispitze unter Druck zu setzen.
Ecevit gibt sich zwar ungebrochen optimistisch, aber dem Zufall will er nichts überlassen: „Die Wahlen müssen stattfinden, sonst ist die Stabilität im Lande gefährdet.“ Der Premier, der von der Festnahme des PKK-Chefs Öcalan ­ sein Prozeß wird nicht vor April eröffnet ­ innenpolitisch profitiert, befürchtet nicht nur, daß es bei einem späteren Wahltermin mit seiner Popularität dahin wäre. Er muß auch Angst davor haben, daß die Generäle die Geduld verlieren und direkt nach der Macht greifen.