Frankfurter Rundschau 16.3.99

Die verbotene Stadt vor dem Sturm
Newroz-Tag in Diyarbakir: Keine Feier, vor allem keine Ausländer

Von Gerd Schumann (Diyarbakir)
War es uniformierte Dummheit oder unerklärliches Glück, daß wir nach Diyarbakir kamen, als erste Ausländer nach der Verschleppung des PKK-Führers Abdullah Öcalans? Für Ausländer ist die Stadt gesperrt.  103 Fremde, teilt der amtliche Abschieber uns später mit, hätten bisher versucht, am Flughafen Diyarbakir einzureisen. Alle seien abgewiesen und in den nächsten Flieger zurück nach Ankara oder Istanbul gesetzt worden - bis auf einen Geschäftsmann.
Diyarbakir kurz vor Newroz, dem regionalen Neujahrsfest. Von den riesigen Melonen, die in alten Zeiten wegen ihres enormen Gewichts bis zu hundert Kilo auf Kamelen hertransportiert werden mußten, redet derzeit niemand mehr. Vielmehr wird die Legende erzählt, daß einst in der „Stadt der Bakr“, die heute häufig auch bei ihrem alten Namen „Amed“ genannt wird, der Satan, der Stifter allen Übels, gefangengenommen, in eiserne Ketten gelegt und am Tor des Palastes gehenkt wurde. So wurde die Stadt von allerlei Plagen befreit, von Erdbeben, Fluten und Feuern.
Jetzt, kurz vor dem kurdischen Neujahrsfest, scheint der Satan wieder einmal entwichen zu sein. Zwei eherne Grundsätze verfügte Ankaras Statthalter für den 21. März, und die will er - koste es, was es wolle - durchsetzen: Es darf keinen einzigen ausländischen Beobachter in den Ausnahmezustandsprovinzen geben. Und: Newroz wird auf keinen Fall gefeiert.
Die Bevölkerung dagegen scheint zur Feier entschlossen. Sie will „auf kurdische Art“ draußen auf den Straßen und Plätzen um Feuer tanzend das neue Jahr empfangen, und es ist davon auszugehen, daß auch „die Kraft, die hier das Sagen hat“ - wie die drei Buchstaben der illegalen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) konspirativ umschrieben werden - ein Newroz-Fest unter jenem freiem Himmel befürwortet, der ihrem Vorsitzenden auf der Gefängnisinsel verwehrt ist.
Seit Öcalans Verhaftung ist die kurdische Bevölkerung eng zusammengerückt. Bis dahin vorhandene Meinungsverschiedenheiten waren plötzlich nebensächlich. Der zunächst lähmende Schock wurde mit den Tagen und Wochen nach und nach überwunden. Als Ministerpräsident Bülent Ecevit seinen Wahlkampfauftakt ausgerechnet im Herzen Kurdistans begehen wollte, befolgten bereits um 95 Prozent der Bevölkerung die Orientierung der PKK: Die Rolläden der Geschäfte blieben erstmals wieder seit den „Serhildan“-Volksaufständen Anfang der neunziger Jahre heruntergelassen, auf den Straßen bewegte sich kaum jemand außer jenen aus der Umgebung bestellten Jublern, Dorfschützern, Staatsbediensteten.
Die Leere von Diyarbakir konnten selbst günstig postierte Fernsehkameras nicht auffüllen. Ecevits Ausflug in den Südosten geriet zum Fiasko. In der Stadt wird - im Flüsterton - bei den voraussichtlichen Wahlen am 18. April mit bis 80 Prozent Stimmen für die prokurdische „Demokratische Volkspartei“ (Hadep) gerechnet, obwohl diese behindert und schikaniert wird. So durfte der Kandidat für Lice die Stadt bisher nicht betreten, und Diyarbakirs Kandidat für den Stadtkern „innerhalb der Mauern“ wurde zusammen mit seiner Tochter fünf Tage und Nächte hindurch festgehalten - wie üblich ohne Begründung.
Diyarbakirs Supergouverneur agiert mit eiserner Faust. Ihm bereiten Newroz und der Prozeßbeginn gegen Öcalan - wahrscheinlich noch im März - Sorgen. Er befürchtet, daß sich die Neujahrstänze in eine riesige, unbeherrschbare Demonstration für den PKK-Vorsitzenden verwandeln könnten, denn der sei - so einer unserer Gesprächspartner - in dieser Region nicht nur „anerkannte Führungspersönlichkeit“, sondern werde „als derjenige angesehen, der das kurdische Bewußtsein neu geschaffen“ habe.  Viele Zeichen deuten auf blutige Angriffe einer schwerbewaffneten Staatsgewalt auf demonstrierende Menschenmassen hin, vielleicht die schlimmsten seit langem.
250 000 Einwohner zählte Diyarbakir vor 15 Jahren. Nach der Zerstörung von 3 428 kurdischen Dörfern und der Vertreibung von drei Millionen Menschen pegeln sich Schätzungen bei anderthalb Millionen ein. In den vergangenen zehn Jahren wurde die einst reiche Handelsmetropole an der Seidenstraße zum Pulverfaß. Im Juni 1991, nach Beerdigung des bekannten kurdischen Politikers Vedat Aydin, der von Geheimpolizisten verschleppt und bestialisch ermordet worden war, lagen 15 Tote in den Straßen, von der Armee erschossen oder in Panik von der Festungsmauer gedrängt. Abgestürzt, schwer verletzt, zerschmettert, Knochensplitter auf rotgefärbtem Boden. Dreißig Meter Höhe erreicht die schwarze Basaltmauer, die die Stadt auf über fünf Kilometern Länge seit fast zwei Jahrtausenden umfaßt und die - so heißt es hier - vom Mond aus zu erkennen ist.
Beeindruckend sind die Absperrungen um das Gerichtsgebäude, in dem an unserem zweiten Morgen in Diyarbakir das 3. Schwurgericht zusammentreten sollte. Auf 9.30 Uhr war der Beginn des neunten Verhandlungstages gegen einige Dutzend Gefängniswärter und Soldaten festgesetzt. Offiziell sind sie angeklagt wegen „Überschreitung der Selbstverteidigungsgrenze und Tötung eines Menschen“. In Wirklichkeit hatten die Uniformierten im September 1996 zehn politischen Gefangenen der „Hölle Nr. 5“, wie das E-Typ-Gefängnis der Stadt genannt wird, mit Eisenstangen die Schädel eingeschlagen und 24 weitere schwer verletzt.
Um 9.20 Uhr brach der Anfang vom Ende unseres Kurdistan-Aufenthalts an. Ein Mann mit dunkler Sonnenbrille und langem Kaschmirmantel herrschte uns an, fassungslos, Ausländern in Diyarbakir zu begegnen, noch dazu anläßlich dieses für seine Zunft so unerquicklichen Prozesses.  Natürlich interessierte ihn brennend, auf welchem Weg und wann wir dem Ausnahmezustandsgouverneur ein Schnippchen geschlagen hatten und in die Stadt gelangt waren. Also ließ er uns gewaltsam in ein Fahrzeug verfrachten und versuchte in den nun folgenden sechs Stunden in der Polizeizentrale, einiges über uns unbotmäßige Besucher herauszubekommen.
Schließlich bekamen wir fünf Minuten, um im Hotel unter Machinenpistolen-Bewachung unsere Koffer zu packen, wurden sechs Stunden später am Flugplatz in einem Polizeifahrzeug von den übrigen Fluggästen abgesondert und zu einer Maschine der „Turkish Airlines“ verbracht. Draußen, in dunkler Nacht, waren noch gerade der Kaschmirmantel und die dunkle Sonnenbrille erkennbarm bis der Flieger abhob. Ab sofort würde auch der Busweg für Ausländer dicht gemacht und Diyarbakir endgültig zur „verbotenen Stadt.“