Neue Züricher Zeitung 12.3.99
Ungereimtheiten im Prozess gegen Öcalan
Umstrittene Staatssicherheitsgerichte in der Türkei

Der Prozess gegen den Kurdenführer Öcalan hat in der Türkei nicht nur einen Graben zwischen Kurden und Türken aufgerissen, sondern auch die Juristen entzweit. Die kurdischen Verteidiger sprechen von Verstössen gegen den Rechtsstaat, während türkische Juristen über eine Rechtsreform debattieren. Der Europäische Gerichtshof bestreitet die Kompetenz der türkischen Staatssicherheitsgerichte, die im Fall Öcalan zuständig sind.

 it. Istanbul, 11. März
 Nach einem zweistündigen Gespräch mit dem Kurdenführer Abdullah Öcalan hat sein Verteidiger Ahmet Zeki Okcuoglu am Donnerstag abend Berichte dementiert, wonach der seit dem 16. Februar auf der im Marmarameer gelegenen Insel Imrali inhaftierte Kurdenführer schwerwiegende Gesundheitsprobleme haben soll. Dass Okcuoglu zwei Wochen lang auf eine Genehmigung warten musste, bevor er seinen Mandanten besuchen durfte, hat den Gerüchten wohl Vorschub geleistet.Am Mittwoch hatte Okcuoglu, von stundenlangem Warten in der kleinen Hafenstadt Mudanya gegenüber der Gefängnisinsel Imrali sichtlich aufgebracht, von der Staatsanwaltschaft eine schriftliche Regelung seines Besuchsrechts gefordert.

 Schwierige Zeiten für die Verteidigung
 Okcuoglus Wutausbruch kontrastiert mit dem offiziellen Bericht der Türkei über die Haftbedingungen Öcalans, den Ankara zuhanden des Europäischen Gerichtshofes verfasst hatte. Darin steht unter anderem, dass der Kurdenführer jederzeit Familienangehörige und seine Anwälte sehen könne. In Wirklichkeit hat Okcuoglu, der einem 15köpfigen Team von Anwälten vorsteht, Öcalan bis am Mittwoch abend ein einziges Mal während 20 Minuten treffen dürfen. Jenem Gespräch wohnten ein Staatsanwalt, der entgegen türkischen Gesetzen den gesamten Dialog des Anwalts und des Kurdenführers notierte, sowie zwei maskierte Männer der Sicherheitskräfte bei. Am Donnerstag wurde Okcuoglu ein weiterer Besuch auf Imrali gestattet.

 Öcalans Verteidiger haben generell mit Schwierigkeiten zu rechnen. Am Mittwoch wurde der Anwalt Medeni Ayhan festgenommen. Ayhan, der zu dem Verteidigerteam gehört, war zuvor zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Vorgeworfen wurde ihm die Verbreitung separatistischer Propaganda. Ein weiterer Anwalt, Osman Baydemir, wurde Ende Februar erst nach mehrstündiger Inhaftierung freigelassen. Ihm waren Kontakte zur kurdischen Arbeiterpartei PKK angelastet worden. Am Donnerstag beriet die Istanbuler Anwaltskammer darüber, ob Okcuoglu wegen separatistischer Propaganda von ihrer Mitgliederliste gestrichen werden soll. In der Türkei wurden während der letzten Jahre faktisch alle Kurden, die ihren ethnischen Ursprung öffentlich nicht leugnen wollten, separatistischer Propaganda beschuldigt. Die Mehrheit der 15 freiwilligen Verteidiger im Prozess gegen Öcalan bestehen aber auf ihrer kurdischen Abstammung. Wegen dieser Haltung waren einige von ihnen bereits Todesdrohungen ausgesetzt gewesen. Als beispielsweise Okcuoglu zum erstenmal seinen Mandanten besuchen wollte, wurde er von einer wütenden Menschengruppe beschimpft, bedroht und mit Steinen beworfen. Dabei wurden Slogans der ultranationalistischen Organisation der «Grauen Wölfe» skandiert.

 Forderung des Europäischen Gerichtshofs
 In der türkischen Bevölkerung herrsche eine Atmosphäre der Lynchjustiz, die sich auch gegen Öcalans Verteidiger auswirke, sagte das Vorstandsmitglied der Istanbuler Anwaltskammer Osman Ergin im Gespräch. Dies sei einer der Rechtsverstösse im Fall Öcalan. Ein weiterer Verstoss sei ferner die Tatsache, dass die Staatsanwälte noch vor Beginn des Verfahrens den Angeklagten öffentlich als schuldig bezeichnet hätten. Schliesslich widerspreche es allen Regeln von Rechtsstaatlichkeit, dass die Verteidigung die Anklageschrift nicht kenne. Der Prozessbeginn ist auf den 24. März anberaumt worden.
 Der Kurdenführer muss sich gemäss Artikel 125 des türkischen Strafgesetzbuches wegen «Verbrechen gegen den Staat» vor einem Staatssicherheitsgericht verantworten. Die Staatssicherheitsgerichte wurden von den Generälen nach ihrem letzten Staatsstreich Anfang der achtziger Jahre gebildet und hatten zur Aufgabe, Vergehen gegen die bestehende Staatsordnung zu behandeln. Weil die Staatssicherheitsgerichte von zwei zivilen und einem Militärrichter gebildet werden, stehen sie im Ruf, die Militärjustiz zu vertreten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat letzten Sommer befunden, dass die türkischen Staatssicherheitsgerichte mit Artikel sechs der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar sind
Laut den Strassburger Richtern garantiert Artikel sechs das Recht des Angeklagten auf ein gerechtes Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht. Die Präsenz eines Militärrichters widerspreche aber diesem Prinzip. Der Europäische Gerichtshof hat Ankara eine Frist bis zum 8. November 1998 eingeräumt, um die notwendigen Reformen im Rechtswesen einzuleiten.

 Der Armeekreisen nahestehende ehemalige Botschafter Sükrü Eledag
forderte das Parlament auf, dem Begehren Strassburgs mit einer sofortigen Verfassungsänderung nachzukommen. Dafür plädierte erstaunlicherweise auch die Armeespitze. Manche Politiker halten aber an einer harten Linie fest. «Mal sehen, ob der Europarat es wagen würde, die mächtige Türkei zu verstossen», schrieb der einflussreiche Kolumnist Coskun Kirca in der Tageszeitung «Milliyet». Am Mittwoch versuchte Präsident Demirel zu vermitteln. Er rief seine Mitbürger dazu auf, die Verfassung zwar zu verändern, allerdings ohne Eile. Derart tiefgreifende Reformen könnten, so sagte er, erst dann durchgeführt werden, wenn die Zusammensetzung des Parlaments nach den Wahlen im nächsten Monat feststehe.