junge Welt   10.03.1999
Türkei: Unerklärter Ausnahmezustand
Kurdischer Geburtsort im Paß kann schon für Verhaftung reichen.
HADEP zu Wahlen zugelassen

Seit der Entführung Abdullah Öcalans gebe es einen »unerklärten Ausnahmezustand auch in den türkischen Metropolen«, erklärte der stellvertretende Vorsitzende der Demokratischen Volkspartei (HADEP) der Provinz Istanbul, Veli Haydar Gülec, in einem Gespräch mit einer Menschenrechtsdelegation aus der BRD, die sich seit Ende der Woche in Istanbul aufhält. Schätzungen der HADEP zufolge hat es seither etwa 10 000 Verhaftungen in der Türkei gegeben. Anlaß für eine Verhaftung könne bereits ein kurdischer Geburtsort im Ausweis sein, so Gülec.
In Istanbul gab es 63 Razzien gegen Vereine, Parteien und Kulturzentren, dabei wurden mehr als 400 Personen verhaftet. Das Mesopotamische Kulturzentrum (MKM) in Istanbul wurde geschlossen, die Schauspieler der kurdischen Theatergruppe Jiyana Nu (Neues Leben) des MKM sind alle inhaftiert. Ebenso die Hauptdarsteller des Filmes »Günese Yolculuk«, der auf der diesjährigen Berlinale große Beachtung fand. Gegen die Parteizentrale der HADEP in Istanbul gab es in den letzten zwei Monaten vier Razzien, andere Geschäftsstellen wurden zehnmal überfallen. Anwesende Parteimitglieder und Sympathisanten wurden mißhandelt und verhaftet. »Viele Kandidaten zu den Wahlen sind in Haft«, sagt Veli Haydar Gülec: »Wir machen unseren Wahlkampf derzeit bei der Anti-Terror-Polizei.« Am Montag wies das Verfassungsgericht eine Klage der türkischen Regierung, die HADEP nicht zu den Wahlen zuzulassen, zurück. »Auch wenn wir jetzt offiziell zur Wahl zugelassen wurden, das Verbotsverfahren gegen unsere Partei läuft trotzdem weiter«, so Gülec. »Durch die ständigen Angriffe auf unsere Büros und die Verhaftungen der Mitglieder finden für uns die Wahlen nicht unter demokratischen Bedingungen statt. Und wir befinden uns auch nicht in einem gerechten Wettbewerb mit den anderen Parteien.« Laut Bericht des türkischen Menschenrechtsvereins Insan Haklari Dernegi (IHD) wurden 20 Radio- und TV-Sender sowie vier Zeitungen vorübergehend geschlossen. Am 5. März wurden alle 43 Mitarbeiter der Zeitung Dayanisma festgenommen und zur Anti-Terror-Abteilung des Istanbuler Polizeipräsidiums gebracht. Einer von ihnen, der Gewerkschafter Süleyman Yeter, wurde dort am 7. März während des Verhörs zu Tode gefoltert. Die Anwälte der Familie bestanden auf einer Autopsie, bei der eindeutig Folterspuren am Körper des Toten festgestellt wurden.
»Aufgrund der eindeutigen äußeren Spuren läßt sich feststellen, daß Süleyman Yeter bei den Anti-Terror- Einheiten gefoltert wurde«, heißt es in einer Erklärung, mit der sich die Anwälte sich an die Öffentlichkeit wandten. »Er hatte vor seiner Festnahme keinerlei gesundheitliche Probleme. Wenn wir die häufigen Fälle von Folter und unsere Beobachtungen in Betracht ziehen, müssen wir davon ausgehen, daß er in Polizeigewahrsam durch Folter ermordet wurde.« Die Demokratische Plattform Diyarbakir hat in einem Aufruf an die internationale Öffentlichkeit dazu eingeladen, das Newroz-Fest 1999 gemeinsam mit dem kurdischen Volk zu feiern. Historisch gesehen sei Newroz der Tag des Aufstandes gegen Unterdrückung und Unrecht sowie ein Symbol für Frieden. Zugleich ein nationaler Feiertag, der von den Völkern des Mittleren Ostens und dem kurdischen Volk begangen wird. In den letzten Jahren jedoch sei die Bevölkerung während der Feierlichkeiten vielfältigen Repressalien ausgesetzt worden, wobei es auch zu sehr vielen Todesfällen gekommen sei. »Davon überzeugt, daß es von existentieller Bedeutung sein wird, daß auch Sie in die Siedlungsgebiete der kurdischen Bevölkerung, allen voran Diyarbakir, kommen, möchten wir Ihnen mitteilen, daß es für uns eine Ehre sein wird, Sie am 21. März zum Newroz-Fest unter uns zu sehen«, so die Einladung der Demokratischen Plattform Diyarbakir, einem Zusammenschluß von Gewerkschaftern, Politikern und Anwälten. Das Newroz-Delegationsbüro in Troisdorf organisiert diese Delegationen. Infos unter  der Telefonnr.: 02241/877349.
Birgit Gärtner