Stuttgarter Zeitung 8.3.99
Nur die Furcht vor Anschlägen trübt die Urlaubsstimmung
In der Reisebranche stehen die Zeichen auf rasantes

Wachstum - Touristikboom bereitet aber auch zunehmend Sorgen
Sonnenbranche mit Schattenseiten: Der Tourismus boomt allenthalben. Doch er droht auch die Grundlagen des eigenen Erfolgs zu zerstören. Das zeigt ein Besuch der ITB in Berlin, wo fünf Tage lang das größte Reisebüro der Welt steht.
Von Thomas Wüpper, Berlin
Eine ¸¸Weltreise’’ in nur vier Stunden - seine Feuertaufe bei der Reisebranche hat Werner Müller mit Bravour bestanden.  Gelassen und jovial, wie es seine Art ist, absolvierte der neue Bundeswirtschaftsminister den gefürchteten Eröffnungsrundgang zur 33. Internationalen Tourismus-Börse (ITB) in Berlin, der größten Dienstleistungsmesse der Welt.  Eine ¸¸Tour des Force’’, im Hetzschritt und unter großem Medienrummel durch 160000 Quadratmeter Ausstellungsfläche, mit kurzen Stopps bei möglichst vielen der fast 7500 Aussteller aus 190 Ländern.
Die ITB: Spiegelbild einer weltweit prosperierenden Branche.  Allein im letzten Jahr besuchten 625 Millionen Menschen ein fremdes Land, ein Plus von 2,4 Prozent. Die Reisenden gaben dabei 775 Milliarden Mark aus, zwei Prozent mehr als im Vorjahr. Schon heute wird im Tourismus ein Zehntel des Weltsozialprodukts abgewickelt. Experten schätzen, daß 2006 rund 385 Millionen in der Branche arbeiten werden. Die Zeichen stehen auf weiteres rasantes Wachstum.
Doch der Urlauber ist ein scheues Wesen, der Ruhe und Erholung in intakter und sicherer Umgebung sucht. Deshalb haben Krisen, Anschläge und politische Spannungen manch traditionellem Reiseland die Bilanz kräftig verhagelt. Ägypten mieden nach einer Serie grausiger Attentate viele, die Statistik weist ein Minus von 500000 auf nur noch knapp 3,5 Millionen Besucher aus. Auch in der Türkei stürzte der Fremdenverkehr wegen der Kämpfe zwischen Regierung und PKK in eine Krise. Die bisher rasant wachsenden Besucherströme stagnierten erstmals. Viele Hotels blieben fast leer, Investoren legten neue Vorhaben auf Eis.
Die Besucher, die bis Mittwoch zur ITB strömen, bekommen ebenfalls zu spüren, daß nicht überall die heile Reisewelt existiert, wie sie die farbigen Prospekte verkünden. Die Sicherheitsmaßnahmen Während der Touristikmesse sind streng wie nie, am Eingang müssen Schleusen wie auf Flughäfen passiert werden. Die Veranstalter fürchten nach den Todesschüssen vor der israelischen Botschaft in Berlin Anschläge durch Kurden. Die Stände der Türkei und von Israel werden ständig scharf bewacht.
Doch Touristen vergessen schnell. Schon ziehen die Buchungen für die türkische Riviera wieder an, auch Ägypten zeigt sich optimistisch, und Fernziele wie Florida, wo noch vor zwei Jahren eine Mordserie Urlauber verschreckte, boomen längst wieder wie eh und je. Der Reisedrang, angeheizt durch eine milliardenschwere Industrie, läßt sich nicht bremsen. ¸¸Der Erlebnistourismus ist im Kommen’’, prognostiziert Freizeitforscher Horst Opaschowski. Sport-, Kultur- und Städtereisen sieht der Experte als ¸¸Massenbewegung des 21.  Jahrhunderts’’. Die Reiseindustrie müsse sich, so rät er, auf den spontanen Urlauber mit hohem Anspruch an Erlebnis und Abenteuer einstellen.
Nichts ist dabei unmöglich. Ob Nepal oder Papua-Neuguinea:
Wer Pech hat, trifft schon dort heute seinen Nachbarn, lästert ein Branchenmagazin. Schon in zwanzig Jahren soll ein Trip ins All und Urlaub im Weltraumhotel möglich sein. Selbst tapferen Lobbyisten der Branche wird es da bange. ¸¸Der Tourismus hat sich als große Kraft erwiesen, die fähig ist, Menschen, Kulturen und gesellschaftliche Strukturen zu ändern, doch er bedeutet auch eine Belastungsprobe, bei der die besten wie die schlimmsten Seiten der Gesellschaft offenbar werden’’, mahnte der Generalsekretär der Welttourismus-Organisation (WTO), Francesco Frangialli, zur Eröffnung der ITB.
Frangialli scheut sich nicht, vor den 5000 hochrangigen Gästen die Schattenseiten der Sonnenbranche zu nennen: ¸¸Der Tourismus destabilisiert lokale Gemeinschaften, beeinträchtigt die Originalität von Künsten, Handwerk und kulturellen Gütern, führt zu Ausbeutung von Kindern und Prostitution. Hier und dort’’, so der WTO-Sekretär sarkastisch, ¸¸gelingt es ihm sogar, die Natur zu zerstören, also die eigentliche Lebensader des Tourismus selbst.’’
Nicht nur Frangialli, viele Experten auch aus der Branche mahnen eine nachhaltigere Entwicklung an. Nicht ganz ohne Eigennutz: ¸¸Die Branche hat erkannt, daß mit umweltfreundlichen Angeboten Geld verdient werden kann’’, so Wirtschaftsminister Müller. Fördermittel aller Art, die in den Tourismus fließen, könnten künftig stärker an Umweltschutzauflagen geknüpft werden. Kein schlechter Ansatz, den die zahlreichen Naturschutzverbände auf der Urlaubsmesse schon lange fordern und deshalb begrüßen.