Neue Zürcher Zeitung 27. Januar 1999

Teilfortschritte der Türkei im Europarat
Wesentliche Verpflichtungen nach wie vor unerfüllt

Drei Jahre nach der Eröffnung eines Verfahrens zur Überprüfung der Mitgliedschaftsverpflichtungen der Türkei im Europarat hat die Parlamentarische Versammlung einen Zwischenbericht beraten. Trotz einigen Anstrengungen Ankaras hat sich an den grundlegenden demokratischen Defiziten und bei den Menschenrechtsverletzungen kaum etwas geändert.
uth. Strassburg, 26. Januar

Die seit 1949 dem Europarat angehörende Türkei ist auch nach 50 Jahren nicht in der Lage, wesentliche Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der 40 Staaten umfassenden Organisation zu erfüllen. Zu diesem Ergebnis kommt ein Zwischenbericht des Kontrollausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarates über die Einhaltung der Verpflichtungen, die der Türkei durch die Mitgliedschaft erwachsen. Als besonders besorgniserregend werden die praktizierte Folter und inhumane Behandlung Festgenommener durch Militär und Polizei, die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, das Verbot von Parteien, der seit zwölf Jahren aufrechterhaltene Ausnahmezustand in zahlreichen Provinzen mit kurdischer Bevölkerung und die Rolle der praktisch keiner zivilen Kontrolle unterliegenden Armee im Staat genannt.

Spätes Monitoring
In dem Zwischenbericht befasst sich der Europarat zum 30. Mal seit 1980 mit der Türkei; er wurde der Parlamentarischen Versammlung erst drei Jahre nach Eröffnung des Kontrollverfahrens vorgelegt und erst, nachdem innerhalb des Europarats und in der Öffentlichkeit deutliche Kritik an der Ungleichbehandlung der Türkei gegenüber zentral- und osteuropäischen Ländern laut geworden war. Der Europarat hatte den Kontrollmechanismus geschaffen, um den früheren kommunistischen Staaten eine möglichst schnelle Eingliederung in die Strassburger Staatenorganisation zur Festigung der Demokratie und Durchsetzung der Menschenrechte zu ermöglichen. Da diese postkommunistischen Staaten bei der Aufnahme nicht alle Mitgliedsvoraussetzungen erfüllen konnten, erhielten sie konkrete Auflagen, verbunden mit einem Zeitplan zur Verwirklichung von Reformen. Um die Einhaltung dieser Verpflichtungen zu überwachen, wurde ein Kontrollverfahren entwickelt, aus dem bisher nur Estland, Litauen, die Tschechische Republik und mit einigen weiteren Auflagen auch Rumänien offiziell entlassen wurden.
Mit dem Argument der Gleichbehandlung wurde ein Verfahren gegen ein Altmitglied, die Türkei, eröffnet. Doch der Europarat tut sich schwer mit der Kontrolle gegenüber grossen Mitgliedstaaten von erheblicher politischer und strategischer Bedeutung. So konnte ein Bericht über Russland im vergangenen Jahr erst auf die Tagesordnung kommen, nachdem die Berichterstatter ihn als Zwischenbericht umbenannt hatten und weil sie auf die Verabschiedung einer Entschliessung mit konkreten Forderungen verzichteten. Im Fall der Türkei nutzten die Berichterstatter, der Sozialist Barsony aus Ungarn und der Christlichdemokrat Schwimmer aus Österreich, das Beispiel Russland, um von vornherein keine Entschliessung vorzusehen. Eine solche wäre zwangsläufig auf eine erneute Verurteilung der Türkei wegen mangelnder demokratischer Reife und systematischer Menschenrechtsverletzungen hinausgelaufen.
Im Gegenteil, indem die Berichterstatter über zwei von insgesamt knapp neun Seiten ausführlich auf die in den letzten Jahren unternommenen Fortschritte eingehen, wird die von ihnen verfolgte Strategie deutlich, die Türkei durch einen ständigen Dialog und durch Zusammenarbeit zu inneren Reformen zu bewegen, anstatt durch Androhungen von Sanktionen als Folge der Nichterfüllung der Verpflichtungen eine Konfrontation heraufzubeschwören.

Strategie des Dialogs
Diese Strategie bleibt nicht ohne krasse Widersprüche: Nach Aufzählung der einzelnen Reformgesetze kommen die Berichterstatter zu dem Schluss, dass die Türkei ohne jeden Zweifel eine Demokratie sei. Wenig später räumen sie aber ein, dass die Gesetze offenbar nicht vollständig in die Praxis umgesetzt werden. Auch die Presse- und die Meinungsfreiheit, als Voraussetzung für das Funktionieren einer Demokratie, würden durch das Antiterrorismusgesetz unterlaufen, wie die Verfolgung und Verurteilung von Journalisten und gewählten Abgeordneten auch in jüngster Vergangenheit zeige. Das Mehrparteiensystem als wesentliches Merkmal einer Demokratie werde durch die Verbote bestimmter Parteien eingeschränkt. Und die Armee als nahezu autonomer Staat im Staat ohne politische Kontrolle erscheint ebenfalls nicht mit den Spielregeln der Demokratie vereinbar.
Breiten Raum nimmt die Darstellung des Vorgehens der türkischen Sicherheitskräfte in den von Kurden bewohnten Landesteilen ein. Dort wurden zahlreiche Dörfer niedergebrannt und die Bevölkerung vertrieben. Besonders das System der Dorfwächter, in das die Armee mehr als 50 000 Kurden gezwungen hat, um gegen die PKK zu kämpfen, wird in dem Bericht kritisiert, nachdem schon der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Ankara in zwei Fällen deswegen verurteilt hat.