Warum hat Abdullah Öcalan Italien verlassen?
      jW sprach mit Rechtsanwalt Hans Eberhard Schultz

      F: PKK-Chef Abdullah Öcalan hat am vergangenen Wochenende Italien verlassen. Wissen Sie, wo Ihr Mandat zur Zeit
      zu erreichen ist?

      Nein, das kann ich nicht sagen. Und wenn ich es wüßte, würde ich es auch vermutlich nicht sagen können. Bevor nicht
      völlig klar ist, daß er sicher ist, muß man mit allem rechnen; insbesondere die Türkei wird nicht vor irgendwelchen
      geheimdienstlichen Aktionen zurückschrecken.

      F: Es ist davon die Rede, Herr Öcalan hätte sein Zufluchtsland Italien freiwillig verlassen. Kann man tatsächlich von einer
      freiwilligen Ausreise sprechen?

      Ja. Ich war zuletzt vor zwei Wochen bei ihm und habe zweimal ausführlich mit ihm, mit seinem römischen Anwalt und
      vielen anderen gesprochen. Daraus ergab sich schon ein ziemlich klares Bild, daß er von italienischer Seite erheblich
      unter Druck gesetzt wird, hauptsächlich mit dem Argument, er wäre ein freier Mann: Aber erstens bekomme er kein
      Asyl, zweitens werde er in einem Terroristenprozeß wahrscheinlich vor Gericht gestellt, der mit einer hohen Strafe enden
      könne. Deshalb wäre er doch, drittens, gut beraten, wenn er mit Rom zusammen nach einer anderen Lösung suche.

      Öcalan hätte unabhängig von der Frage des Asyls einen Aufenthaltsstatus als Flüchtling in Italien bekommen müssen. Die
      Gefahr eines Prozesses ist als äußerst gering einzuschätzen. Das wäre eine politische Entscheidung auf der Ebene des
      Justiziministers gewesen. Der ist bekanntlich ein Kommunist. Nur auf der Grundlage einer solchen Entscheidung hätte der
      Prozeß eröffnet werden können. Und ein solches Verfahren wäre aufgrund der Vorwürfe aus der Türkei, nicht etwa der
      aus der BRD, eingeleitet worden. Also können nur irgendwelche Vorwürfe aus der Türkei dazu herhalten, die wir, seine
      Anwälte, im einzelnen nicht kennen, die aber in allen Verfahren gegen PKK-Mitglieder auf Angaben von dubiosen
      Kronzeugen beruhen und in einer Weise präsentiert werden, die rechtsstaatlichen Anforderungen nicht gerecht werden.
      Nicht umsonst ist die Türkei in allen Verfahren bisher, die Kurden und PKK- Anhänger bisher in Strasbourg anhängig
      gemacht haben, bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte und beim Europäischen Gerichtshof, verurteilt
      worden. Das sind inzwischen über 100.

      In einem Prozeß gegen Öcalan wären die Türkei und das Militär ganz schnell auf die Anklagebank gekommen.

      F: Gerade vor diesem Hintergrund ist die Ausreise doch sehr kritisch zu bewerten. Während in Italien spekuliert wird,
      Öcalan halte sich im belorussischen Minsk auf, sprechen andere davon, das Ziel seiner Reise wäre Libyen. Beides
      Länder, von denen aus Öcalan politisch und diplomatisch viel schwieriger wird agieren können, als von Italien aus, wo
      ihm eventuell ein Prozeß drohte.

      Richtig. Nur im Moment ist ja außer der Türkei von Korea bis Südafrika fast jedes Land in der Spekulation. Der PKK-
      Vorsitzende und die PKK-Führung wollten keine Konfrontation mit Italien, sondern wollten die Möglichkeit für einen
      Dialog, für eine politische Lösung mit Hilfe von Italien. Das Anliegen einer politischen Lösung ist offensichtlich
      insbesondere aus den USA hintertrieben worden. Die französische und die deutsche Regierung haben es wohl auch nicht
      gewollt oder nicht das Rückgrat gehabt, Washington etwas entgegenzusetzen, so daß man sagen muß, daß Europa hier
      versagt hat.

      Interview: Rüdiger Göbel